Personale und kulturelle Identität als Voraussetzung für Freiheit und Würde

2006 Joachim Hoefele

Wir leben in einer Zeit, die die rasche Veränderlichkeit der Verhältnisse, den rapiden globalen Wandel betont. Es gibt kaum ein Statement oder die Rede eines der Wortführer unserer wirtschaftlichen und politischen Eliten, die heute nicht mit der Beschwörung des rapiden globalen Wandels im Gefolge der sogenannten Globalisierung beginnen.

Der kapitalistische Markt, so ist zu lesen, sei nach dem Zusammenbruch der sozialistischen Staaten weltweit beherrschend geworden. Unter dem Druck gewaltiger entfesselter Kapitalströme zerfielen die nationalen Marktwirtschaften und mit ihnen auch die Nationalstaaten, was zu grossen sozialen und politischen Umwälzungen, bis hin zu kriegerischen Auseinandersetzungen führe. Der einzelne Mensch – so wird prognostiziert – werde aus den traditionellen Bindungen der Familie, der Religionen, der Kulturen und Nationen herausgerissen, was zu einem weitreichenden Verlust der personalen und kulturellen Identität der Menschen, auch zum Verlust religiöser und nationaler Identitäten führe. – Ein gewaltiges Szenario.

Die Frage, die sich hier stellt, ist: Ist die sogenannte Globalisierung tatsächlich so ein reissender Strom, der alle Bereiche des wirtschaftlichen, politischen oder kulturellen Lebens mit sich zieht? Ist sie wirklich eine Entwicklung, die „unaufhaltsam“ (Peter Glotz), „mit schicksalhafter Notwendigkeit“ den Zusammenbruch der Nationalstaaten, die Zerstörung der Familie, die Auflösung der Geschlechterrollen, ja den weitgehenden Verlust der personalen und kulturellen Identität der Menschen mit sich bringen wird?

Oder ist die Rede von der Globalisierung, die wie ein Credo in den Reden und Schriften unserer wirtschaftlichen und politischen Führer wiederkehrt, nicht vielmehr eine rhetorische Metapher, ein Instrument der Manipulation, das ein lähmendes Gefühl der Ohnmacht hervorrufen soll, damit sich die Menschen in diesen Strom des globalen Wandels hineinwerfen?

Es scheint, als sei die Rede von der Globalisierung zur großen Legitimationserzählung geworden um einen Begriff Lyotards zu gebrauchen, die einen gewaltigen wirtschaftlichen und sozialen Wandel rechtfertigen und herbeiführen soll. Die Frage ist nur: Welche Interessen stehen dahinter? Wem dient das? Und wozu?

Zum einen ist da – und das ist ja nur eine Binsenweisheit – das multinational agierende Grosskapital, dem tatsächlich die Bindungen der Menschen an Familie, Kultur und Nation im Wege stehen. Wegen ihrer sozialen und kulturellen Verwurzelung sind diese Menschen, die verbunden sind, weniger verfügbar, weniger manövrierbar und ausbeutbar. Im Wege stehen auch die Grenzen der nationalstaatlichen Demokratien, wegen ihrer zum Teil langwierigen politischen Entscheidungsverfahren, so wird das offen gesagt, aber auch wegen ihrer sozialstaatlichen Beschränkungen. Offen wird von dieser Seite auch die Frage aufgeworfen, ob die Demokratie heute überhaupt noch taugt.

Auf der anderen Seite sind machtpolitische Interessen auszumachen, die mit dem global agierenden Grosskapital verschiedentlich verwoben sind. Sie sind dabei, supranationale, sowjetisierende Machtstrukturen aufzubauen, die angeblich dem Schutz vor den Auswüchsen einer globalisierten Wirtschaft dienen.

Die globalisierte Wirtschaft, so etwa schreibt der Berater und Ideologe der europäischen Sozialisten Anthony Giddens (‚Jenseits von Links und Rechts’), habe zu einer Schwächung des Nationalstaates geführt. Deshalb sei eine „Umstrukturierung der Politik“ notwendig geworden; man müsse über den Nationalstaat hinausgreifende „supranationale politische Strukturen“ ins Auge fassen.

Das ist der Weg, den die Sozialisten – und nicht nur sie! – in Europa gehen. Und wie ernst ihnen ihre  Idee eines „supranationalen“, zentralistischen „Vereinten Europa“ ist, hat sich im Sanktionen gegen Österreich gezeigt, die eine klare und eindeutige Missachtung national- und rechtsstaatlicher Souveränität zum Ausdruck gebracht haben.

Aber nicht genug damit: Über Europa hinaus, so ist zu hören, brauche es globale politische Strukturen, die angeblich die unkontrollierten Kapitalströme lenkten; es brauche eine Weltregierung, die zwecks Steuerung und Ausgleich über einen eigenen Haushalt verfügt; es brauche ein globales Rechtssystem und – zur Durchsetzung desselben – einen Weltgerichtshof (dessen Vorbereitung, Installierung und Arbeitsbeginn der Multimilliardär Soros finanziert); es brauche darüber hinaus eine exekutive Gewalt im Sinne einer Weltpolizei (die NATO?, müssen wir uns fragen), die den globalen Rechten Geltung verschaffen soll. Die Rede ist von global governance, von international criminal court (ICC) und einer internationalen Eingreiftruppe, die die Angelegenheiten „regeln“ soll. Es fehlt, so wird zugegeben, diesen globalen Machtgebilden die demokratische Legitimation.

Aus der ursprünglichen Globalisierung, die anfangs nur die dünne Schicht der wirtschaftlichen Eliten prägte, droht so eine wirkliche, allumfassende zu werden, und zwar auf dem Gebiet der Wirtschaft und(!) der Politik. Eine derart globalisierte Politik und Wirtschaft greifen tatsächlich über die Nationalstaaten hinaus, deren konstitutionelle Aufgabe es war und ist, die Souveränität der Völker und die demokratischen Freiheiten und Rechte der Menschen zu schützen.

In einer wirtschaftlich und politisch globalisierten Welt stehen deshalb die demokratischen Grundrechte und Freiheiten der Menschen ebenso auf dem Spiel wie die Souveränität der Völker, und damit auch die nationale und kulturelle Identität der Menschen weil sie in eigener Selbstbestimmung nicht mehr darüber befinden können.

Erlauben Sie uns einige grundlegendere Gedanken zur Frage der Identität und wie wichtig der Aufbau einer stabilen Identität für die seelische Gesundheit des einzelnen wie auch für den Zusammenhalt einer Gesellschaft ist. Jeder Mensch verfügt über eine unverwechselbare und in ihrem innersten Kern einzigartige Identität; sie prägt die Wahrnehmung der Welt, die Lebenseinstellung, unser gesamtes Denken, Fühlen und Wollen.

Der Aufbau der Identität vollzieht sich zunächst in der Familie, den ersten Beziehungen des Kindes, des heranwachsenden Menschen zu seiner Mutter und zu seinem Vater. Durch die Identifikation mit den ersten Bezugspersonen bildet das Kind – noch bevor es bewusst denken kann – ein Persönlichkeitsideal [4], das zum Leitbild seiner Persönlichkeitsentwicklung wird. Dabei übernimmt es durch Identifikation – im Sinne einer eigenaktiven und schöpferischen Aneignung – kulturelle Werte und Normen, die zum Bestandteil seiner Persönlichkeit werden.

Die Entwicklung der individuellen, persönlichen Identität ist deshalb immer auch Entwicklung einer kulturellen Identität. Das Eine geht ohne das Andere nicht. Das ist eine Grunderkenntnis der Tiefenpsychologie von Anfang an.

Die Entwicklung der Identität findet – wie gesagt – zunächst in den vertrauten Beziehungen in der Familie und in der Verwandtschaft statt, später in der grösseren Gemeinschaft der Kultur und der unmittelbaren und überschaubaren politischen Gemeinschaft statt.

Fehlen klare kulturelle Werte und Normen oder fehlen vertraute, konstante Beziehungen bzw. sind sie zerrüttet, so leidet darunter die Entwicklung einer stabilen Identität. Es kann zu pathologischen Formen von Identitätszerfall kommen, mit der Zeit auch zu einem bedrohlichen Zerfall kultureller Werte und Normen, durch den der Bestand einer Kulturgemeinschaft oder auch der Bestand einer politischen Gemeinschaft gefährdet ist. Wir kennen genügend Beispiele vom Zerfall von Kulturen, auch politischer Gemeinschaften, die derartige Prozesse durchgemacht haben.

Entwicklungspsychologische Untersuchungen von Bowlby, Ainsworth, Staub und anderen zeigen, dass konstante und sichere Bindungen vom Kindes- bis ins Seniorenalter entscheidend für die Entwicklung und Aufrechterhaltung einer stabilen Identität sind.

Menschen, die über eine stabile Identität verfügen sind eigenständiger, beharrlicher, geduldiger und weniger verzagt. Sie sind offener, einfühlsamer und hilfsbereiter anderen Menschen gegenüber. Eigenschaften, die den selbständigen, verantwortungsbewussten Bürger in einer lebendigen Demokratie auszeichnen! – Im Gegensatz dazu stehen Menschen mit einer labilen Identität, die in der Regel in unsicheren Bindungen mit mangelnder Wertorientierung aufgewachsen sind. Sie haben ein negatives Selbstbild, erleben infolgedessen andere Menschen eher als bedrohlich. Sie sehen Angriffe auf ihr Selbst, wo keine sind, neigen zu Furcht, Mißtrauen und Abwehrverhalten. Bereits auf leichte Bedrohung reagieren sie mit Aggression. Es mangelt ihnen an Konfliktfähigkeit und Toleranz. Und nicht selten kultivieren sie – sozusagen zur Kompensation ihres negativen Selbstbildes – ein Persönlichkeitsideal, das auf Stärke und Macht [Erwin Staub] beruht. Wir denken dabei an randalierende Fussballfans, auch gewalttätige Jugendbanden und Skinheads.

Eine Vielzahl entwicklungspsychologischer und kulturanthropologischer Untersuchungen, deren Ergebnisse hier nur angedeutet werden können, zeigt, daß die Entwicklung positiver Einstellungen wie Eigenständigkeit, Mitgefühl, Verantwortungsfähigkeit, Konfliktfähigkeit, Toleranz usw., auf denen eine lebendige Demokratie ‚von unten’ aufbaut, abhängig sind

  1. von einer klaren Wertorientierung, die eine positive Identifikation mit kulturellen und politischen Grundwerten und Normen möglich macht, und
  2. vom Aufbau und der Entwicklung einer stabilen Identität, und damit zusammenhängend
  3. von der Verwurzelung in relativ stabilen familiären Beziehungen und darüber hinaus von der Verwurzelung in kleineren kulturellen und politischen Gemeinschaften, die die Möglichkeit der freien Mitgestaltung und Mitverantwortung [auf der untersten Ebene des Staats- und Gemeinwesens] bieten, in einem freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat. (vgl. direkt-demokratisches Gemeinwesen der Schweiz, als Modell)

Fehlt davon etwas, so haben wir entwurzelte, gleichgültige [in ihrer inneren psychischen Struktur kernlose] Menschen mit labiler Identität, die in einer globalisierten Welt beliebig manövrierbar, ausbeutbar und machtpolitisch verfügbar sind. Es fehlt ihnen an Verwurzelung, an Verbundenheit, an Solidarität und Mitgefühl, an Offenheit und an Verantwortung für andere. Es fehlen ihnen Halt und Orientierung, und letztlich der Lebenssinn. Und zwar: Weil sie sich nicht wirklich zugehörig fühlen zu einer kulturellen und politischen Gemeinschaft, die ihnen eine freie Mitgestaltung und Mitverantwortung ermöglicht. Weil sie sich nicht mit den Werten und Normen einer kulturellen und politischen Gemeinschaft in einem demokratischen Gemeinwesen identifizieren konnten. Alles ist ihnen gleich gültig.

Und in dieser Gleichgültigkeit des identitätsschwachen Menschen hat schon Tocqueville die größte Gefahr für die Demokratie gesehen. Denn der identitätsschwache Mensch hat wenig Achtung vor der Identität anderer, weil es ihm [im Grunde] an Gefühl für die eigene Identität fehlt. Weil es ihm letztlich an Selbst-Achtung fehlt. Wo aber die Achtung vor Würde des Menschen fehlt und das Mitgefühl mit dem anderen, da ist die Grundlage für ein gesittetes, gerechtes und friedliches Zusammenleben in Gesellschaft und Staat brüchig geworden.

Meine Damen und Herren, die geschichtlich gewordenen und gewachsenen National- und Rechtsstaaten Europas und auf der ganzen Welt, die auf den Prinzipen der Gewaltenteilung, der Menschenrechte und der Demokratie aufbauen, sind bis heute der einzige und wirksame Schutz für ein Leben in Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit. Sie brauchen, um von innen heraus zu leben und Bestand zu haben, Menschen mit einer stabilen Identität, mit Zivilcourage und Mut.

Der einzelne Mensch entwickelt seine Neigungen, seine Einstellungen, seine Werthaltungen usw., kurz: seine Identität aber nicht zuerst durch den Staat oder durch die Nation, sondern in den kleineren Gemeinschaften der Familie, der Gemeinden, der Kultur. Sie sind der Humus, aus dem der einzelne im freien Wechselspiel mit anderen, lebt, gestaltet und arbeitet. Hier, in den kleineren überschaubaren Gemeinschaften der Familie, der Kultur, der Gemeinde entwickelt das Individuum [im freien Mitgestalten] seine personale und kulturelle und – wenn man so will – auch seine nationale Identität. Deshalb muss der freiheitlich demokratische Rechtsstaat – subsidiär und föderativ – die kleineren Lebensgemeinschaften schützen und ihnen alle Möglichkeiten, alle Aufgaben und Entscheidungen überlassen, die sie selbst bewältigen können.

Hier wird auch deutlich, dass es in einem freiheitlich demokratischen Rechtsstaat keinen Widerspruch gibt zwischen [partikulär] kultureller und nationaler Identität. Die direktdemokratische Schweiz ist der augenfällige Beweis, dass in einem Nationalstaat verschiedene Sprachen, Traditionen und Kulturen identitätsstiftend sein können und dass diese Sprachen und Kulturen in Frieden und Freiheit zusammen leben können.

Jede Gesellschaft braucht selbstverständlich einen Minimalkonsens an politischen Grundwerten, an politischer Kultur. Ohne eine gewisse Identifikation des Bürgers mit den Grundwerten des Staates ginge die Bindung des einzelnen zum Staat verloren, die Verfassung und die Gesetze eines Landes würden zu abstrakten Verhaltensregeln, die vom einzelnen nicht mehr getragen werden. Unweigerlich würde der Staat sich langsam auflösen und in seine Einzelteile verfallen. Insofern ist die Identifikation des Bürgers mit den Grundwerten des Rechtsstaates bzw. der Nation unabdingbar.

Fälschlicherweise wird – gerade von den Verfechtern der Globalisierung – die Identifikation mit der Nation [einseitig und verzerrt] mit Nationalismus gleichgesetzt; in Wirklichkeit aber verdankt sich der Nationalismus mit seinen negativen Erscheinungen, wie er sie zweifellos im 19. und 20. Jahrhundert hervorgebracht hat, einer überwertigen Idee, die die eigene Nation höherwertig als andere erscheinen lässt. Diese Art von Nationalismus benutzt die Identifikation mit der Nation, das sogenannte Nationalgefühl der Bürger, für machtpolitische Ziele.

Gewiss hat sich – von der Antike über das Mittelalter bis in die jüngste Zeitgeschichte – das Verständnis von Nation und nationaler Identität gewandelt. Und auch heute gibt es noch keine einheitliche Vorstellung von dem, was eigentlich eine Nation sei. Eines können wir aber mit Sicherheit sagen: Konzepte nationaler Identität aber, die die Nation absolut, also über alle anderen Werte setzen, auch Konzepte, die für die eigene Staatsnation eine wie auch immer begründete Vorrangigkeit gegenüber anderen Nationen beanspruchen, werden weiterhin jedes Zusammenleben in Freiheit und Würde verunmöglichen. Dies gilt für die zwischenstaatlichen Beziehungen ebenso wie für das Verhältnis einer Staatsnation zu nationalen Minderheiten. Nationale Minderheitenrechte müssen deshalb verfassungsmässig garantiert und weiterhin föderalistisch gesichert sein.

Nach einem neuzeitlichen, aufgeklärten Verständnis heisst ja Nation oder nationale Identität nichts anderes, als dass der einzelne Bürger Teil einer geschichtlichen Erfahrungsgemeinschaft ist. Das ist ja eine Tatsache. Denn willentlich oder unwillentlich trägt jeder die Geschichte seiner Nation mit sich. Schon per Geburt wird er Teil einer Solidargemeinschaft, die sowohl ihre negativen als auch ihre positiven historischen Erfahrungen über mehrere Generationen angehäuft hat, aus denen er auch lernen soll. – Darüber hinaus heisst nationale Identität auch, Teil einer Kultur zu sein, in der Muttersprache zu kommunizieren sowie in deren Kategorien zu denken.

Ein wohl entscheidender Baustein nationaler Identität ist das historische Bewusstsein. Aufgabe der Historiker ist es, die Geschichte so aufzuarbeiten, dass sie das Bewusstsein für Fehlentwicklungen, aber auch für die positiven Entwicklungen fördern. Weder der unkritische Glaube an unhaltbare Geschichtsmythen noch – wie wir das heute vielfach finden – die geistlose Verteufelung nationaler Überlieferungen formen ein tragfähiges Geschichtsbewusstsein. Redlichkeit, Klarheit und Umsichtigkeit sind da gefragt.

Die geschichtliche Erfahrung zeigt aber klar und deutlich, dass die Unterdrückung nationaler Minderheiten oder allgemein: die Unterdrückung nationaler Identitäten mit grosser Wahrscheinlichkeit früher oder später zur Explosion führen kann. Die neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts sprechen diesbezüglich eine deutliche Sprache und sind ein Warnzeichen für jede Form unbedachter Experimente.

Die volle Souveränität der National- und Rechtsstaaten anzuerkennen, ist und bleibt die erste Voraussetzung auch für supranationale politische Organisationen. Eine noch nie gekannte [politische] Entfremdung zwischen den Bürgern und der Classe politique wäre die Folge, wenn etwa im Rahmen eines Vereinigten Europa der Nationalstaat als Zwischenglied zur Region abgebaut würde; Regionen ohne politische Rechte haben kaum mehr als einen folkloristischen Wert. Denn ohne demokratischen und föderativen Rechtsstaat ist die Souveränität der Völker auf allen Ebenen bis hinab zu den Regionen und den kleineren politischen Gemeinschaften, sind die Grundrechte und Freiheiten der Menschen gefährdet.

Um zum Schluss zu kommen: Seine Identität entwickelt der Mensch nicht zuvorderst im Staat oder in der Nation, sondern in den Gemeinschaften der Familie, der Kultur und der Gemeinde. Verlieren diese Gemeinschaften ihre Bedeutung oder zerfallen sie – wie uns das im Zuge der Globalisierung vorausgesagt wird – so wird das unmittelbare Folgen für den einzelnen und (!) für den Zusammenhalt der Gesellschaften haben.

Viele junge Menschen leiden heute an Sinnleere, Langeweile und Depressionen. Sie sind politisch uninteressiert und indifferent. Erschüttert nehmen wir Kenntnis von den Auswüchsen jugendlicher Gewalttaten, wo die jungen Täter nicht einmal zu Gewissensbissen und Reue fähig sind. Es sind Jugendliche, die keine stabile Identität aufbauen konnten, die kaum noch ein Gewissen haben; sie sind in unsicheren Bindungen mit mangelnder Wertorientierung aufgewachsen. Sie sind verführbar und missbrauchbar. Sie sind innerlich nicht verwurzelt in mitmenschlichen Beziehungen, wo sie Mitgefühl, konstruktives Mitgestalten und Mitverantwortung hätten lernen können.

Gerade daran wird deutlich, welche grosse Bedeutung der Familie, den Vereinen, den Schulen, den Gemeinden auf den untersten Ebenen eines freiheitlich-demokratischen Rechtsstaats zukommt; hier können junge Menschen (und selbstverständlich auch Erwachsene) miteinander tätig werden, sich gegenseitig helfen, sich informieren, ihre Meinung bilden, sich zugehörig fühlen. Hier können sie aus ihren regionalen Gewohnheiten und kulturellen Traditionen schöpfen und schaffen. Hier, im konkreten Miteinander, in der Familie, in den Vereinen, aber auch in der Schule entwickeln sie ihre ureigenste Identität.

In den politischen Gemeinden können sie ihre Interessen geltend machen, andere für ihre Überzeugung gewinnen; hier müssen sie lernen, ihre Meinung vor dem besseren Argument zurückzustellen und die Meinung anderer zu tolerieren; hier können sie die Folgen ihrer Entscheidungen überblicken, weil sie mit dem Nächsten verbunden sind. Hier, bei der Bewältigung der anstehenden Lebensaufgaben, entsteht das Ringen um eine für alle verträgliche Lösung. – Hier verbinden sich regionale kulturelle und individuelle Eigenheit mit konkret erfahrener und für alle geltende universelle Freiheit.

Die Aufgabe der Schule besteht darin, den jungen Menschen den Wert der Sprache, der Tradition, der Geschichte und der Kultur verständlich zu machen. Sie muss den jungen Menschen auch die Grundwerte des freiheitlich demokratischen Rechtsstaates bewusst machen und vermitteln; denn die konstitutionelle Aufgabe des föderativen, des freiheitlich demokratischen Rechtsstaates ist es, die Souveränität der Völker, die nationale und kulturelle Identität und Eigenständigkeit der Menschen zu wahren und zu schützen.

In einer Welt des globalen Wandels diese Freiheit zu verteidigen, die allen Menschen ihre persönliche und kulturelle Eigenheit und Identität zugesteht, das ist unsere Aufgabe.

Autor

Joachim Hoefele, Prof. Dr. phil., Dozent, Lehrer für Deutsch als Fremdsprache

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