Irrwege der «Sterbehilfe»

24. Oktober 1998

1. Wenn Ärzte „störrisch“ werden …

 

Während sich Politiker von einem europäischen Nationalbewusstsein eine Überwindung von partikulärem Nationalismus und Kriegsgefahr erträumen, spielt sich – fast unbemerkt – in diesem gebannt auf die neue deutsche Rechte starrenden Europa in unserer unmittelbaren Nachbarschaft Ungeheuerliches ab, das schmerzlich an die unmittelbare Vergangenheit erinnert. Oder ist sie schon nicht mehr so unmittelbar?

 

Was würden Sie sagen …?

Was würden Sie sagen, wenn Ihre fünfzigjährige, depressive, aber körperlich gesunde Mutter an einen Psychiater geriete, der feststellte, dass Ihre Mutter nicht depressiv sei, sondern eine „natürliches und spezifisch menschliches Todesverlangen“ habe? Was würden Sie sagen, wenn dieser Psychiater sich dann mit mehreren Kollegen beriete, diese ebenfalls meinten, dass Ihrer Mutter nur noch „human“ zu „helfen“ sei, wenn man sie töte, beziehungsweise Gift zur Selbsttötung gebe? Und was würden Sie sagen, wenn der Psychiater bei Ihnen zu Hause auftauchte und Ihrer Mutter Gift gäbe? „Jeder Mensch“, so würde der Psychiater Ihnen lächelnd antworten, wenn Sie sich wütend an ihn wendeten, „hat das Recht, sein Leiden als unerträglich zu empfinden und den Arzt um Euthanasie zu bitten.“ Und wenn Sie zufällig auch Psychiater wären und empört den Kollegen fragten, wie er dazu käme zu töten, würde der Euthanasie–Arzt Ihnen spöttisch antworten, Sie seien „störrisch“, „arrogant“ und „unflexibel“, Sie hätten „menschlich einen ernsten Mangel an Vortrefflichkeit“, denn sie würden die Menschen nicht „auf ihre Art sterben lassen.“

Sie fühlen sich, verehrter Leser, zurecht entsetzt und meinen, es mit einer Horrogeschichte aus dem Dritten Reich zu tun zu haben? Nein, dies hat sich vor unserer Haustüre, im heutigen Holland wirklich zugetragen. Und es stand in der Zeitung. Man kann es gewusst haben. Dieser Fall hat sich wirklich unter der Täterschaft eines Dr. Chabot, eines Aktivisten der Niederländischen Vereinigung für freiwillige Euthanasie, zugetragen. Die wörtlichen Zitate stammen von einem Gesinngsfreund Chabots, Dr. P. Admiraal, der nach eigenen Angaben in den letzten zehn Jahren 50 Patienten mit Barbituraten und Curare „erlöst“ hat. Die Sterbezeit betrug dabei nach Angaben von Admiraal zwischen „wenigen Minuten“ und „fünf bis zehn Stunden“. Die einzige Unwahrheit, die wir begingen, ist, dass wir die beiden Gesinnungsgenossen zu einer Person vereinigten. Sie stehen für viele niederländische Ärzte, die leider heute so denken und handeln. Und die Patientin ist leider kein Einzelfall. Ihr Schicksal ist typisch für das Tausender, die jährlich in den Niederlanden durch Ärzte ums Leben kommen.

 

Entmenschlichung des „alten“ Arztes

Dieser Dr. med. P. Admiraal, Anästhesist am Reiner de Graft-Hospital im niederländischen Delft, hielt am 30. September 1993 im Universitätsspital Zürich ein Referat mit dem Thema „Sterbehilfe ohne Grenzen?“ Dort konnte man Ungeheuerliches erleben. Erschreckend war zunächst, wie der jovial wirkende Admiraal in gleichfürmigem Tonfall schätzte, in den letzten zwanzig Jahren in Holland an etwa 25´000 Menschen aktive Euthanasie verübt wurden sei. Angesichts der tatasächlicben Zahlen ist dies stark untertrieben, abstossend war jedoch vor allem, mit welcher Gleichmütigkeit heute, fast ein halbes Jahrhundert nach dem nationalsozialistischen Massenmord an Kranken, ein Arzt davon erzählt, dass in seinem Land Ärzte Patienten töten Stolz schwang auch in seiner Stimme, denn in seinen und den Augen seiner Gesinnungsgenossen von der Niederländischen Vereinigung für freiwillige Euthanasie ist dies ein „humanistischer Standpunkt“. Kollegen, die sich an den Hippokratischen Eid halten, seien „arrogant“, „unflexibel“ und „störrisch“ – so Admiraal wörtlich. Mit dieser Umwertung aller Werte spricht er dem Arzt, der sich an den hippokratischen Eid gebunden fühlt und der das kategorische Tötungsverbot achtet, das Mitgefühl für den leidenden Patienten an. Der „alte“ Arzt sei gefühllos und „habe einen ernsten Mangel an Vortrefflichkeit“. Das alles sei der „alte“ Arzt, weil er die „Selbstbestimmung“ des Patienten nicht achte, geistig nicht darauf eingestellt sei, „jeden Patienten so sterben zu lassen, wie er es wolle“ und ihn nicht vor „unnötiger medizinischer Behandlung schützt.“ Pfarrer, die Sterbende begleiten, seien meist ebenfalls nicht besser und verhielten sich wie „Schaffner im letzten Tram, die an der Endstation das Licht löschten.“ Kurz alle, die nicht so wie Dr. Admiraal Euthanasie begehen wollen, sind gefühllos, unmenschlich und gegen die „Selbstbestimmung“ des Patienten. Der – nach Admiraal – „neue“ Arzt hat einen wirklich humanistischen Standpunkt, tötet den Patienten auf dessen Verlangen, auch wenn er körperlich gesund ist, denn er achtet dessen Selbstbestimmungsrecht.

Wer sich an den hippokratichen Eid hält, wer kategorisch fordert, dass man nicht töten soll, ist jetzt völlig als Unmensch, inhuman, arrogant und ohne Gespür für die Zeichen der Zeit, die auf Wandel stehen, abgetan. Je weniger Sachinformation Admiraal bringt, umso mehr Gewicht legt er darauf; den „alten“ Arzt zu beschimpfen, zu entwerten und entmenschlichen. Das Leiden des Patienten an seiner Krankheit erscheint plötzlich als vom Arzt, der nicht „erlösen“ will, verschuldet. Wer kategorisch beim „Du sollst nicht töten!“ bleibt, wird als Folterer am Patienten denunziert.

 

Wie man mundtod macht und woher die Vorbilder kommen.

Alles, was der Lebensschützer jetzt noch sagt, wird gegen ihn verwendet. Damit ist er – bei bestehender Redefreiheit – praktisch mundtod gemacht. Leugnen kann und will er das absolute Gebot „Du sollst nicht töten!“ nicht. Spricht er sich mutig gegen Admiraals Tötungsideologie aus und pocht auf den hippokratischen Eid, ist er von vorn herein als der „Störrische“ lächerlich gemacht. Was er sagt, ist – ehe er auch nur einen Ton über die Lippen gebracht hat – in den Augen derjenigen Zuhörer, die Admiraal leichtfertigen Glauben schenken, disqualifiziert. Der historisch Kundige meint allerdings Goebbels zu hören, denn es es gehörte schon immer zur besten Kunst Machtbesessener, diejenigen mit dem besseren Argument durch Verächtlichmachung in der Öffentlichkeit zur Unperson zu machen. Wie sehr konnten die Nazis nicht den grössten Humbug als edel hinstellen. Sie, die das Neue brachten, waren die wahren Menschen, die anderen waren die Ewiggesterigen, die, die es nie begriffen, die „Humanitätsdusler“. Das Gebot „Du sollst nicht töten!“ war in den Augen der Blut–und–Boden–Ideologen ein „jüdisches“ Gebot – verweichlichte Humanitätsduselei von Untermenschen! Herrlich und gewaltig war dagegen der neue arische Mensch, den sie züchten wollten. Es war ja gerade das Selbstbestimmungsrecht, der Kampf um die Selbstbehauptung, der den Nazis als höchstes Gesetz galt. Was war schon Humanität im Lichte des nazistischen Sozialdarwinismus! Die gegenseitige Hilfe stand für den Nationalsozialisten im Dienst des Gesetzes von der Selbstbehauptung. Es mag daher erschrecken, dass das Zürcher Publikum ruhig und ohne Protest hinnahm, wie da wieder einer die gegenseitige Hilfe in den Dienst der Selbstbehauptung stellte, und die Worte Admiraals ruhig anhörte, dass der altmodisch und gegen das Selbstbestimmungsrecht des Patienten sei, der sich an das „Du sollst nicht töten!“.halte.

 

Missbrauch des Leidens – das Spiel mit der Moral anderer

Verkauft wird dem Schweizer Publikum diese neue „Moral“ – Dr. Admiraal: „Nach dem Zweiten Weltkrieg hat sich alles verändert.“ – mit dem gleichen Taschenspielertrick, den Goebbels in seinem berüchtigten Film „Ich klage an!“ anwandte. Das Publikum wird mit dramatischen Schilderungen grossen Leides, schwerer Fälle und Grenzsituationen möglichst stark emotional belastet. Der gewünschte Effekt besteht darin, den Zuhörer das Leiden des Patienten selbst durcherleben zu lassen. Jeder normale Mensch wird beginnen, sich mehr oder minder in die geschilderten Patienten hineinzudenken. Es wird immer einen gewissen Prozentsatz unter den Zuschauern geben, und es sind nicht die schlechtesten, die sich dann verleiten lassen, den Gedanken nur einmal zu denken, ob man nicht in solchen Situationen grossen Leides den „Gnadentod“ geben dürfe. Der Euthanasieideologe hat gewonnen: Er hat den anderen dazu gebracht, etwas zu denken, was dieser eigentlich nicht denken wollte. Er hat es geschafft, dass Menschen ihre tiefsten moralischen Überzeugungen relativieren. Das nächste Mal ist dieses dann bei vielen nicht mehr so schwer …

Nach diesem Muster arbeiten seit den späten 60er Jahren die Euthanasieideologen in den Niederlanden und so arbeitet auch jetzt Admiraal. Laufend werden schwere Fälle zitiert, um zu zeigen, welch grosse Tat es sei, einen terminalen Patienten nicht durch unnötige Prolongierung der Behandlung mehr als nötig leiden zu lassen, sondern ihm notfalls auch mit dem „Gnadentod“ zu „helfen“. Vor allem betont er auch immer wieder „nur“ im Spital und im „Team“, nach vernünftiger Überlegung also, werde solches in Holland getan. Wer möchte noch an vorhandener Ethik und Umsicht zweifeln!

 

Widerspruch!

So wird um den heissen Brei herumgeredet, bis der Vortrag zuende ist. In der Viertelstunde, die nun zur Diskussion zur Verfügung steht, fragt vor dem erstaunten Publikum ein Zuhörer den Referenten, er habe von folgendem Fall aus Holland gehört und was er, der Arzt!, dazu sage: Einer 50-jährigen, körperlich gesunden Holländerin, die in noch intakten Sozialbeziehungen lebte, war, nachdem ihr Psychiater nach Rücksprache mit Kollegen zu dem Schluss gekommen sei, die Frau wolle „wirklich“ nicht mehr leben zu Hause Gift gegeben worden. Der „Admiral“ ist um ein Ausweichen nicht verlegen: Es sei doch interessant, dass man hier in der Schweiz besser über sein Land Bescheid wisse als die Holländer selbst! Er wisse nichts von so einem Fall. Der Frager steht wie der letzte Trottel da, und der Euthanasie-Arzt ist eine Verlegenheit los: Er muss nicht in der Sache Stellung nehmen. Als der Frager aus dem Publikum aber beharrt und Dr. Chabot als den Tötungs-Psychiater nennt, stellt sich plötzlich heraus, dass Dr. Admiraal den Namen des Psychiaters sehr wohl kennt und erst recht den Fall. Das nächste Ausweichmanöver kommt blitzschnell: Dies sei ein „Einzelfall“! Im darauffolgenden Referat von Professor Klijn, zeigte dieser jedoch, dass es nach regierungsamtlichen Unterlagen 400 solcher „Einzelfälle“ pro Jahr in Holland gibt, bei denen Suizidpatienten durch Ärzte derart „geholfen“ bekommen, dass sie sterben. Ausserdem ist der „Ethiker“, der Dr. Chabot vor Gericht verteidigt hat, der gleiche wie der von Dr. Admiraal, der ebenfalls bereits wegen Euthanasie vor Gericht stand …

 

„Unerforschte Wege …“

Holland unterzeichnete die Europäische Menschenrechtskonvention. Deren Artikel Nr. 2 fordert kathegorisch „Jedermanns Recht auf Leben ist durch Gesetz zu schützen.“ Wer die Wochenendausgabe der NZZ vom 29./30. Mai dieses Jahres aufschlägt, findet dort auf Seite 9 die Überschrift „Unerforschte Wege der Euthanasie in Holland„.[1] Das dort Geschrie­bene ist ein Schlag ins Gesicht: Eine 50jährige, körperlich gesunde Sozialarbeiterin hatte im September 1991 in Holland im Beisein von zwei Ärzten in ihrem eigenen Haus Gift geschluckt. Zuvor hatte sie den Harlemer Psychiater Chabot in insgesamt 30stündigen Gesprächen davon überzeugt, dass sie fest ent­schlossen war, nicht weiter zu leben. Die Frau lebte in äusserst tragischen Lebensumständen, war jedoch nicht vereinsamt und hatte noch en­ge Kontakte zu Verwandten und Bekannten, hatte aber dennoch nach Überzeugung des Psychiaters, der sich mit insgesamt sieben Kol­legen über den Fall beraten hatte, mit dem Le­ben abgeschlossen.

Ende April 1993 wurde dieser Psychiater nun von einem Gericht im niederländischen Assen freigesprochen. „Die Richter erkannten … eine auswegslose Notsituation an, in der die Ärzte keine andere Wahl hatten, als zu helfen.“ Sie haben richtig gehört: „Die Richter erkannten … eine auswegslose Notsituation an, in der die Ärzte keine andere Wahl hatten, als zu helfen.“! Aber dem nicht genug. Die Richter rechtfertigten die­sen Freispruch weiter damit, dass die Frau – hätte der Arzt ihr nicht die Todespillen gegeben – „zu einer ‚grauenvollen‘ Art des Selbstmordes Zuflucht genommen hätte.“

Chabot handelte keinesfalls im Ent­scheidungsnotstand, sondern äusserst überlegt. Er hatte sich selbst bei der 1972 gegründeten ‚Niederländischen Vereinigung für freiwillige Euthanasie‘ für besonders schwierige Fälle zur Verfügung gestellt. Er wollte nach ei­genen Angaben „nicht stillschweigend durch das Ausschreiben der entsprechenden Rezepte … zur Selbsttötung beitragen. Er habe bewußt den Entschluß gefasst, bei der Selbsttö­tung zu helfen„! Und um diese vorsätzliche Tat zu legitimieren, versetzt er sich in eine mora­lisch klingende Position: „wenn es gesellschaft­lich akzeptiert werde, dass niemand gegen sei­nen Willen am Leben erhalten werden könne, so müsse auch diese Hilfe akzeptiert werden.“ „Unsere Gesellschaft, so meinte er, habe den Schlüssel zum Arzneimittelschrank nun einmal den Ärzten in die Hand gegeben. Deshalb müsse der Patient den Doktor von seinem unumstössli­chen Todeswunsch zu überzeugen wissen. … Der Psychiater … sieht in den rund 100 Selbstmorden, die in den Niederlanden pro Jahr von Menschen über 70 Jahre verübt wer­den, einen Beweis, dass viele alte Menschen, auch ohne ernste körperliche Leiden, einfach mit dem Leben abgeschlossen haben. Ohne Hilfe der Gesellschaft könnten sie jedoch keinen milden und würdigen Tod sterben, sondern würden dazu getrieben, sich vor den Zug zu werfen oder vom Dach zu stürzen.“

 

Umdeutung des Suizids zum „Freitod“

Um diesen menschenverachtenden geistigen Salto mortale überhaupt vollziehen zu können, wir seit einiger Zeit – in Deutschland vor allem auch von der Deutschen Gesellschaft füt humanes Sterben, aber auch von der Deutschen AIDS-Hilfe und anderen –  der Suizid umgedeutet. Suizid gilt allgemein zu recht als eine gestörte Handlung, wie dies zum Beispiel der Psychiater Klaus Thomas be­schreibt: „Als Täter ist jeder Selbstmörder krank und darum für sein Tun nicht verantwortlich. Als Opfer aber bedarf er des Schutzes vor sich selbst.“[2] Der sogenannte „Bilanz-Suizid“ ist nun das Resultat einer Umdeutung dieses vom Ethos der Verantwortlichkeit getragene Ver­ständnis von Suizid. Psychotherapeuten wie Wolfram Dorrmann zum Beispiel ändern in ihren Praxen die Haltung gegenüber dem Suizi­dpatienten und schaffen neue (un)ethische Tat­sachen, indem sie von der Annahme ausgehen, „wenn sich ein Patient mit den medizinischen Problemen auseinandersetzen konnte, stelle ich eine Entscheidung für den vorgezogenen Tod (…) aus psychotherapeutischer Sicht nicht mehr in Frage„.[3] Dass dies auf die gesamte ethische Einstellung gegenüber dem Patienten und ein schwerwiegender Eingriff in das ärztliche Be­handlungsethos darstellt, wird nicht mehr disku­tiert. Wenn ein Arzt allerdings gegenüber dem Suizid derartig verantwortungsloses Handeln an den Tag legt, ist die Sicherheit seiner ethischen Grundhaltung gerade gegenüber dem Wert des Lebens allgemein nicht mehr gewährleistet, und der Patient muß zu recht auch bei anderen Be­handlung mangelndes ärztliches Pflichtbewusst­sein befürchten.

Der Bilanz-Suizid wird zum Beispiel von der Deutschen AIDS-Hilfe definiert als „überlegte Selbsttötung psychisch gesunder Per­sonen als freie Willenshandlung. Die Bilanz des bisherigen Lebens und der gegenwärtigen Si­tuation wird aufgerechnet, als negativ befunden und als Konsequenz die Selbstvernichtung aus­geführt.„[4] Der Autor des Artikel geht sogar noch einen Schritt weiter und reklamiert gegen diese dem Patienten angeblich auferlegte „Darlegungspflicht“ eine „Autonomie des Suizi­danten“, womit er dem Arzt eine Pflicht abfor­dert, bestimmte Selbstmorde als aus freien Stücken gewollt zu „respektieren“. Greift der Arzt trotzdem ein, will helfen, retten, heilen, wird ihm einäugiger „Eifer“ unterschoben, er gehe einzig von Haltung aus, „‚Heilung‘ als möglich und wünschenswert zu sehen.„[5] Wo­von sollte der Arzt sonst ausgehen? Der Artikel zitiert hierzu ein unrühmliche Textstelle aus C. G. Jungs Briefen, die zur Rechtfertigung der Umdeutung des Suizides dient: „Unter solchen Umständen [des Suizides, d. V.] würde ich den Dingen ihren Lauf lassen; denn wenn es im Menschen angelegt ist, Selbstmord zu verüben, dann geht tatsächlich sein Leben in dieser Richtung; [. . .] Es gibt so etwas wie ein Karma.„[6]

Damit ist der Hippokratische Eid abgeschafft – ja schlimmer noch, er wird durch einen ethi­schen Taschenspielertrick als unmenschlich dif­famiert! Die logische Konsequzenz hieraus sind Psychiater wie der oben zitierte Holländer Chabbot, die Patienten Gift zur Selbsttötung verabreichen. Die weiteren Konsequenzen hat die Geschichte schon einmal vorgezeichnet. Die Diskussion um den „Bilanz-Suizid“ ist damit auch zur gegenwärtigen Euthanasiedebatte zu rechnen, denn sie bereitet den Boden dafür mit der Umdeutung des absoluten Wertes vom Le­ben als höchstes und schützenswertes Gut.

Charakteristisch für die Protagonisten dieser Debatte ist, dass sie sich in bekannter Weise der Kritik entziehen, indem sie sich als Propheten einer „höheren“ Gerechtigkeit ausgeben und dem Ethiker „wirkliche“ Moral beibringen wol­len. Im zuvor zitierten Beispiel aus den Schrif­ten der Deutschen AIDS-Hilfe wird derjenige Arzt, der davon ausgeht, dass Heilung möglich und wünschenswert sei, als unflexibel und als in ei­ner einseitigen Logik gefangen abgewertet. Dieser Arzt habe eine zu sehr auf „Heilung“ ausgerichtete, starre Logik, womit er den „Freitod“, wie es jetzt heisst, nicht „wirklich“ verstehen könne. Jungs fatalistische Haltung wird zur höchsten Moralität hinaufstilisiert: Sie könne dazu beitra­gen, „demjenigen, der scheinbar widersprüchlich und verstandeslos handelt,[7] das subjektive Recht auf seine getroffene Entscheidung nicht zu nehmen.„[8] Jetzt ist der Arzt, der zu recht im Patienten den Wunsch nach Leben erkennt und achtet, ein verständnisloser Unmensch ge­worden, der angeblich die „Autonomie“ des Pa­tienten, seine „Entscheidung“ nicht mehr achtet. Jetzt schwingt sich der Nihilist in die Position des Moralpredigers auf, nachdem er zuvor den Fatalismus zur „freien Entscheidung“ umgedeu­tet hat: Wenn man die Selbsttötungsabsicht als freie Entzscheidung akzeptiere, dann werde da­durch „niemanden die Meinung genommen, daß sein Leben für ihn das höchste und schützens­werteste Gut ist, welches er besitzt. Das muß aber auch für dienjenigen gelten, die ihr Leben beenden, da für sie der Tod eine übergeordnete Position bezogen hat, der sie sich nicht entzie­hen können.“[9] In Wirklichkeit lässt der  Arzt den Patienten im Stich, wenn er sich auf die Seite der Selbsttötungsabsicht stellt und diese als „Recht“ umdeutet. Der zitierte Autor jedoch hat sich längst als „wahrer“ Vertreter des Pati­entenschicksals aufgespielt. Wie zynisch gegen das Leben sind die Worte Jean Amérys, der nun als Apostel dieser neuen „Freiheit“ zitiert wird: „Muß man leben? Muß man da sein, nur weil man einmal da ist?“ Das ist in Wirklichkeit ein nihilistischer Protest gegen die Natur. Man versucht, sich dem als Zwang empfundenen Naturgesetz zu entziehen und möchte dies zur „Freiheit“ umdeuten. Und das Interessante ist: Amery weiß ganz genau, daß sich kein Mensch wirklich dem Wunsch zu leben entziehen kann, auch nicht im „Freitod“, denn das obige Zitat geht folgender­massen weiter: „Im Moment vor dem Absprung zerreißt der Suizidant eine Vorschrift der Natur und wirft sie dem unsichtbaren Vorschreibenden vor die Füße wie ein Theater-Staatsmann einem anderen den Vertrag [. . .] Man muß vielleicht, ich aber will nicht und beuge mich nicht einem Zwange, der sich von außen als der Gesellschaft und von innen als eine lex naturae drangvoll spürbar macht, die ich aber nicht länger aner­kennen will.“[10] In diesem Bekenntnis offenbart der Protagonist des Freitod die Schalheit seiner „Freiheit“, denn sie kann sich nicht wirklich vom Wunsche zu leben lösen.

Es gilt der alte Grundsatz, den schon die griechische Antike wusste und den die Stoa so klassisch formulierte, dass der Mensch freier, wenn er im Einklang mit den Gesetzen und Werten lebt, die in der Welt herrschen, und denen er unterworfen ist – und dass es blanke Unvernunft ist, wenn man die Regeln der Natur mißachtet. Höchste Unvernunft ist es dabei, die Regeln der Natur bewusst nicht beachten zu wollen. Sol­ches Handeln braucht den Schutz vor sich selbst, die verantwortliche Hilfe und die Hei­lung dringender als alles andere.

Die Vervollkommung der Natur als Chance des Menschen, freier leben zu können, beinhal­tet die Ausrichtung des Arztes auf Heilung Le­benserhaltung. Man kann einräumen, dass es Fälle politischen Widerstandes gibt, die ein Recht auf Selbstötung einschliessen, diese gehen jedoch nicht von einem dubiosen Recht auf „selbstbestimmtes Sterben“ oder einer Freiheit von Naturgesetzen aus. Sie müssten daher in ei­nem gänzlich anderen Rahmen diskutiert wer­den.

Eine angeblich Freiheit von Naturgesetzen, wie sie Amery und mit ihm breite Kreise in­nerhalb der neuen Freitod- und Euthanasiede­batte anführen, führt in Nihilismus, denn der Mensch kann nicht gegen seine Natur leben, ohne Schaden zu nehmen. Amery stellt in Wirklichkeit die Frage falsch, wenn er anklagend fragt: „Muß man leben?“ Er tut so, als wäre es per se schlimm, zu leben. Nichts rechtfertigt diese Unterstellung. Krieg, Leid und Verlust an Lebenssinn, werden nicht gebessert, wenn man ein Recht auf Freitod daraus ableitet. Tätige Liebe und Verantworutngsbewusstsein gegenüber dem Leid sind vielmehr die anthropologisch gebotenen Haltungen.

 

 

2. Das Tötungsverbot muss bleiben.

 

Es gibt keine „unerforschten Wege“ in der Euthanasiefrage.

Meist ist es, wie schon geschildert, ein einziges Argumentationsschema, mit dem heutige Euthanasiebefürworter eine erneute Rechtfertigung der Tötung Kranker herbeizureden suchen: Nach 1945 habe sich alles verändert, daher stünden wir heute in der Medizin vor völlig neuen Tatsachen, und die alte Ethik greife nicht mehr. Dies würde uns die Überle­gung aufzwingen, ob es nicht „humaner“ sei, in bestimmten Fällen unheilbare Patienten „zu ihrem Wohle“ zu töten. Dass die Medizin Fortschritte gemacht hat, steht ausser Zweifel. Der Mensch ist seit Hippokrates jedoch der gleiche geblieben. Das Recht auf Leben besteht nach wie vor:

 

Das Recht auf Leben – ein Grundrecht

Artikel 1 der „Bill of Rights“ von Virginia aus dem Jahre 1776 formulierte zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte das Recht auf Leben als die Basis allen sozialen, rechtlichen und sittlichen Lebens: „Alle Menschen sind von Natur aus gleichermaßen frei und unabhängig und besitzen angeborene Rechte … das Recht auf Leben und Freiheit und dazu die Möglich­keit, Eigentum zu erwerben und zu behalten und Glück und Sicherheit zu erstreben und zu erlangen.“

Die amerikanische Unabhängigkeitserklärung von 1776 hält als Grundaufgabe des Staates erstmals fest, dass er die unveräusserlichen, qua natura gegebenen Grundrechte zu schützen habe. Seither ist das Lebensrecht zur Grundbedingung von Selbstbestimmung und Würde und zum Ausgangspunkt unserer freien Gesellschaftssysteme geworden. Zusammen mit der spanischen Naturrechtslehre, der englischen Rechtslehre und der französischen Aufklärung entstand so die Tradition, auf der unser heutiges freies Zusammenleben fusst. Die DDR kannte zum Beispiel als totalitärer Staat, welcher sich aus ideologischen Gründen nicht auf die menschliche Natur beziehen wollte, kein Grund– oder Menschenrecht auf Leben, sondern leitete das Lebensrecht in Artikel 35 ihrer Verfassung von 1968 sekundär aus dem Recht auf Schutz der Gesundheit und der Arbeitskraft ab. Das Schweizer Bundesgericht hält explizit fest, dass das Recht auf Leben ein „ungeschriebenes Verfassungsrecht“ ist und, eingeschlossen in die „Freiheiten, welche elementare Erscheinungen der Persönlichkeitsentfaltung des Menschen darstellen“, durch die Verfassung geschützt ist. Die Schweizer Rechtssprechung bezieht sich ebenfalls auf die Europäische Menschenrechtskonvention. Durch deren Artikel 2 wird das „Recht jedes Menschen auf das Leben gesetzlich geschützt“. Das österreichische Staatsgrundgesetz von 1867 nennt das Recht auf Leben nicht explizit, verfährt aber ähnlich wie die Schweiz.

 

Aus dem Nationalsozialismus gelernt

Auf dem Hintergrund des nationalsozialistischen Genozids hat das bundesdeutsche Grundgesetz das Leben als Unverletzlichkeitsrecht für alle Zeiten festgeschrieben: „In keinem Fall darf ein Grundrecht in seinem Wesensgehalt angetastet werden.“ Nach allgemeiner Rechtsauffassung nimmt das Leben in der Wertordnung des Grundgesetzes den Rang eines Höchstwertes ein und ist die „vitale Basis der Menschenwürde und die Voraussetzung aller anderen Grundrechte„. Die Freiheitsgrundrechte sind im naturrechtlichen Sinne „objektivrechtliche Wertentscheidungen der Verfassungsordnung„. Damit ist das Lebensrecht nach Urteil des Bundesverfassungsgerichts ein objektiver Wert, nach dem sich alle Bereiche der Rechtsordnung auszurichten haben. Daher kann ärztliche Tätigkeit nur zum Ziele haben, dem Schutz des Lebens zu dienen, ansonsten würde sie der vernünftigen Rechtsordnung zuwiderlaufen. Die naturrechtliche Begründung der Freiheitsrechte in den modernen Verfassungsstaaten hat damit die kategorische Forderung des Hippokratischen Eides nach unbedingtem Schutz des Lebens erneuert und begründet.

Das Lebensrecht leitet sich anthropologisch aus der personenhaften Natur des Menchen ab und wird jedem allein deswegen garantiert, weil er der Gattung Mensch angehört, unabhängig von Alter, Rasse, Gesundheits– und Geisteszustand, Weltanschauung, sozialem Status oder Nationalität. Die Lebensschutzgarantie erfasst daher jeden Menschen ohne Diskriminierung und schliesst utilitaristische Erwägungen unterschiedlich wertvoller Leben aus.

 

Lebensschutz als grundgesetzlicher Auftrag

Die „Einbecker Empfehlungen“ der deutschen Akademie für Ethik in der Medizin, der Deutschen Gesellschaft für Kinderheilkunde und der Deutschen Gesellschaft für Medizinrecht  halten daher fest: „Eine Abstufung des Schutzes des Lebens nach der sozialen Wertigkeit, der Nützlichkeit, dem körperlichen oder dem geistigen Zustand verstößt gegen Sittengesetz und Verfassung.“ „Eine menschenwürdige Behandlung dieser Gruppen, die auf die Hilfe anderer angewiesen sind, ist nicht nur ein sittliches Gebot der Humanität, sondern grundgesetzlicher Auftrag an jeden, in dessen Obhut und Verantwortung ein hilfbedürftiger und zu betreuender Mensch gegeben ist.“

Das Lebensrecht gewährt im deutschen Grundgesetz zweierlei: „das natürliche ´Lebendigsein´“ des Menschen und die Sicherung seines materiellen Existenzminimums. Gerade weil es als Höchstwert geschützt ist, hat jeder Mensch ein Recht auf sein Leben, nicht aber über es. Diesen grundsätzlichen Naturrechtsgedanken finden wir als Grundlage aller unserer modernen Verfassungen. Er impliziert einen eiheitlichen anthropologischen Grundgedanken: Das natürliche Lebensdigsein ist nur durch naturwissenschaftliche Masstäbe bestimmt. Das Naturrechtsdenken schliesst ausdrücklich vor allem sozialwissenschaftliche Bewertungen des Lebens aus. Ein „lebensunwertes Leben“ ist daher rein begrifflich undenkbar und eine verfassungsrechtliche Unzulässigkeit. In den durch das Legalitätsprinzip gebundenen Demokratien ist eine Einschränkung des Lebensrechts durch Gewohnheitsrecht unzulässig. Im Gegenteil, dem Staat wird nicht nur der Eingriff in das Lebensrecht verwehrt, er hat darüber hinaus eine unbedingte Schutzpflicht gegenüber dem Leben und dem Lebensrecht. Er muss sich schützend und fördernd vor das Leben stellen.

 

Kultureller Rückschritt

Die Tötung eines Patienten, der sogenannte Gnadentod, steht daher in diametralem Gegensatz zu den demokratischen Verfassungen und damit in Widerspruch zu den Grund– und Menschenrechten, wie sie in den Deklarationen der internationalen Konventionen über Menschenrechte festgeschrieben wurden. Das Leben selbst ist die Grundlage dafür, dass der Mensch Würde hat. Würde und einen Wert hat also jeder Mensch, weil er Mensch ist.

Es gibt einen wohlbegründeten, breiten inter­nationalen Konsens gegen Tötung von Patienten, der un­ter schmerzlichen Erfahren historisch gewach­sen ist. Im Prozess der Kulturentwicklung über­nimmt die menschliche Gemeinschaft immer mehr Verantwor­tung gerade gegenüber ihren schwachen kranken und behinderten Mitgliedern. Der Ruf nach Euthanasie ist daher ein kultureller Rückschritt. Die historischen Erfahrungen, wohin die Aufhebung des Tötungsverbotes, schon nur das „Nachdenken“ über lebenswertes und lebensunwertes Leben führt, liegen längst vor. Wir haben in Europa seit den Greueln der Conquistadores eine breite und heute abgeschlossene Diskussion darüber, dass das menschliche Leben – auch für den Arzt – unantastbar ist. Wir sollten uns also davor hüten, nochmals „erforschen“ zu wollen, was wir längst in den Geschichtsbüchern nachlesen können. Der historische Konsens ist vielfach festgehalten.

 

 


I. Politische Institutionen

Die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“ der UNO von 1948: „Jedermann hat das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Per­son.

Die „Europäische Menschenrechtskonvention“ von 1950: „Das Recht jedes Menschen auf das Leben wird gesetzlich geschützt.“

Der „Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte“ von 1966: „Jeder Mensch hat ein angeborenes Recht auf Leben.“

Die „Amerikanische Konvention über Menschen­rechte“ von 1969: „Jedermann hat das Recht auf Achtung seines Lebens.“

Die „Afrikanische Charta über die Rechte der Menschen und Völker“ von 1981: „Alle Menschen sind unverletzlich. Jeder Mensch hat das Recht auf Achtung seines Lebens und die Inte­grität seiner Person.

Die Empfehlung 779 des Europarates von 1976 über die Rechte der Kranken und Sterbenden hält fest, dass der Arzt „selbst in Fällen, die ihm hoffnungslos erscheinen, kein Recht hat, den natürlichen Verlauf des Sterbens absicht­lich zu beschleunigen.“

 

 

II. Internationale Institutionen der Ärzteschaft

 

Das „Genfer Ärztegelöbnis“ des Weltärztebundes von 1948 erneuerte den Hippokratischen Eid: „… werde ich die höchste Achtung vor dem menschlichen Leben vom Zeitpunkt der Befruch­tung an wahren.“

Der „Internationale Code der ärztlichen Ethik“ des Weltärztebundes von 1949: „Der Arzt muss sich immer vor Augen führen, das Leben von der Konzeption an zu bewahren.

Die Deklaration des Weltärztebundes von Lissabon über die Rechte des Patienten aus dem Jahre 1981 kennt keine Euthanasie.

Die Deklaration des Weltärztebundes von Venedig von 1983 erneuert wie 1948 das „Genfer Gelöbnis“ den Hippokratischen Eid: „Es ist die Pflicht des Arztes, zu heilen und, wo es möglich ist, das Leiden zu lindern und die Interessen seines Patienten zu wahren. Von diesem Grundsatz darf es keine Ausnahme ge­ben, auch nicht im Falle einer unheilbaren Krankheit oder Missbildung.“

Die Deklaration des Weltärztebundes von Ma­drid von 1987: „Euthanasie, das heisst die absichtliche Herbeiführung des Todes eines Patienten, selbst auf dessen Wunsch oder auf Wunsch naher Angehöriger, ist unethisch.“

Die „Grundsätze der ärztlichen Ethik“ der Internationalen Konferenz der Ärztekammern und Organisationen mit entsprechenden Aufgaben von 1987 erneuerten ebenfalls den Eid des Hippokrates: „Der Arzt hat bei der Ausübung seines Berufes die Gesundheit des Patienten in den Vordergrund zu stellen. Der Arzt darf seine beruflichen Kenntnisse nur zur Verbes­serung oder Erhaltung der Gesundheit der Men­schen, die sich ihm anvertrauen, und nur auf deren Ersuchen einzusetzen. Er darf in keinem Fall zu ihrem Schaden tätig werden.“

 

 

III. Kirchliche Stellungnahmen

 

Es ist für die christlichen Kirchen eine Selbstverständlichkeit, von der Heiligkeit des menschlichen Lebens auszugehen: „Du sollst nicht töten!“ Stellvertretend hierfür seien zwei Stellungnahmen genannt:

Erklärung der Synode der Evangelischen Kirche im Reinland (1985) und der Landessynode der Evangelichen Kirche von Westfalen (1986): „Wir erkennen, daß dem Menschen seine Würde von Gott beigelegt und darum unantastbar ist, daß sie also nicht in seinen Fähigkeiten und Leistungen begründet ist. Wer von Menschen geboren ist, ist Mensch, mögen seine Fähigkeiten und Möglichkeiten noch so eingeschränkt sein. Wir erkennen, daß Leiden den Menschen nicht erniedrigt und Leistung den Menchen nicht erhöht„.

Erklärung zur Euthanasie 1980 der Kongrega­tion für die Glaubenslehre: „Das menschliche Leben ist die Grundlage aller Güter und zu­gleich die notwendige Quelle und Vorbedingung für alle menschliche Tätigkeit sowie auch für jegliches gesellschaftliche Zusammensein.“ Es ist „ein fundamentales unverlierbares und unveräusserliches Recht„.

 

 

3. Der Remmelink–Report: Dokument der Schande

 

Tötung auf Verlangen des Patienten wird in Holland „Sterbehilfe auf Verlangen“ genannt, und man spricht bei Tötung gegen den Willen des Pati­enten von „aktive Sterbehilfe ohne ausdrückliches Verlangen“. Dies hat nichts mehr mit dem zu tun, was man sonst als Sterbehilfe, Sterbegleitung bezeichnet. Bei Sterbehilfe oder Sterbebegleitung haben wir es mit dem Erlöschen des Lebens zu tun und dem Sterbenlassen unter therapeutischer und mitmenschlicher Begleitung. Was in Hol­land passiert, ist aktive Tötung, womit man sich als Herr über Leben und Tod aufschwingt.

1991 veröffentlichte ein von der holländi­schen Regierung beauftragter Ausschuss unter Vorsitz des Generalstaatsanwalts Remmelink ei­nen Bericht über die Euthanasiepraxis in Hol­land. Er beruht auf 405 Interviews mit Ärz­ten, den Untersuchungen von 7´000 Todesfällen und der Analyse von 2´250 Fragebögen. Er ist eine der wertvollsten weil umfassendsten In­formationsquellen über die tatsächliche Lage in Holland.

1990/91 zählt der Bericht 2´300 Patienten, die der Euthanasie zum Opfer fielen (bei einer jährlichen Gesamtsterblichkeit von 129 000). Aber: Der Bericht versteht unter Euthanasie lediglich (1) die Gabe einer töd­lichen Substanz (sprich Gift), (2) durch ei­nen Arzt, (3) auf aus­drücklichen Wunsch des Patienten. Er spricht nur bei solchen Tötun­gen überhaupt von „Euthanasie“. So kommt die immer noch erschreckende Zahl 2´300 zustande. In Wirklichkeit aber ist die Zahl der Opfer sehr viel höher.

In 1´000 Fällen nämlich, die der Bericht nicht als Euthanasie bezeichnet, tötete der Arzt ohne ausdrücklichen Wunsch des Patien­ten. »Das erscheint um so skandalöser, als 14 Prozent der Patienten bei vollem, weitere 11 Prozent teilweise bei Bewusstsein waren.« Aus den Interviews mit den Ärzten ergab sich ausserdem, dass von diesen 1000 Patienten etwa 20% eine Lebenserwartung von mehr als eine bis vier Wochen hatten und weitere 8% mehr als einem Monat! 27% aller befragten Ärzte hatten Mass­nahmen zur Tötung ohne Verlangen des Patien­ten durchgeführt.

In weiteren 400 Fällen handelte es sich um aktive, vom Patienten verlangte Beihilfe des Arztes zum Selbstmord, wobei die tödliche Substanz vom Arzt bereitgestellt und vom Pa­tienten selbst eingenommen wurde.

In weiteren rund 5´000 Fällen hatte der Arzt mit ausdrücklicher Tötungsabsicht eine Be­handlung angebrochen oder ein Medikament überdo­siert.

Zählt man all diese vom Bericht nicht als Euthanasie, sondern als „normale medizinische Praxis“ definierten Fälle zusammen, so erge­ben sich zusätzlich zu den offiziellen 2´300 Euthanasietoten weitere 6´400 Opfer, für 1990/91 also die Mindestzahl von 8´700 Men­schen, bei denen der Arzt – statt Leben zu erhalten – tötete.

Die vielleicht traurigsten Berichte finden sich bei jenen 1000 Patienten, die ohne gefragt worden zu sein getötet wurden. Die angegebenen »Gründe«, die die Ärzte in den ausführlichen Interviews gaben, lauteten: »niedere Lebensqualität«, »keine Aussicht auf Besserung« (60%), »Schmerz« (31%), »es war der unausgesprochene Wunsch des Patienten« (17%), »medizinische Behandlung wurde sinnlos« (39%) und »die Belastung war der Familie nicht mehr zuzumuten« (32%). Nirgendwo zeigt sich deutlicher, dass nicht der Wunsch der Patienten (ein niederländischer Staatsekretär: »zivilisierte Praxis der Euthanasie«) der wahre Grund für ihre Tötung ist, wie der niederländische Gesetzgeber beharrlich behauptet. Jochemsen, vom Lindeboom Instituut für medizinische Ethik, hat betont, dass diese Daten unumstösslich zeigen, dass in Wirklichkeit die durch den Arzt beurteilte Situation des Patienten der wahre Grund für die meisten Tötungen ist. Dieser zeigt sich um so deutlich, berücksichtigt man, dass von den 9´000 Kranken, die jährlich Euthanasie »freiwillig« begehren, »nur« 2´300 die »Erlaubnis« berkämen – alles nach offiziellen Angaben! Das bedeutet, dass der Arzt die eigentliche Entscheidung trifft, wann ein Patient getötet wird und nicht der Patient selbst! »Der Wunsch scheint«, sagte Jochemsen, »als ein Umstand zu funktionieren, welcher es legal und möglicherweise moralisch für den Arzt leichter macht, Euthanasie durchzuführen. Aber es ist grundsätzlich der Zustand und nicht der Wunsch des Patienten, welcher der wirkliche Grund für Euthanasie in vielen Fällen ist. Die Achtung vor der Autonomie des Patienten wurde als Hauptargument zur Begünstigung der Akzeptanz der Euthanasie vorgeschoben.«

Der Bericht der Remmelink–Kommission sagt nichts Genaues über Euthana­sie an Neugeborenen oder Psychiatriepatienten aus. Es heisst jedoch darin, dass bei etwa der Hälfte aller Fälle von Frühgeburten oder schwer behinderten Kindern Hilfe nicht er­teilt oder abgebrochen wurde. Eine relativ hohe Zahl getöteter Willensunfä­higer waren Psychiatrie­patienten. Kein Mensch wird je mehr aufdecken können, wieviel Un­recht da geschah.

Der Bericht dokumentiert damit selbst ausdrücklich, was Ethiker als logische Folge der faktischen Aufhebung des Tötungsverbotes längst voraus­gesagt haben: Die in den letzten Jahren auf dem Wege des Opportunitätsprinzips allmählich in den Niederlanden akzeptierte Regel, wonach Euthanasie nur auf „ausdrücklichen Wunsch des Patienten“ durchgeführt werden werden darf, wird von vielen Ärzten bereits stillschweigend ignoriert wird, so dass es eine Praxis verdeckter Euthanasie bereits üblich ist. Der Cardiologe Fenigsen, ein intimer Kenner der Niederländischen Verhältnisse, spricht in diesem Zusammenhang von „Crypthanasie“.

 

Hollands Ärzte isoliert!

Nur eine einzige kleine niederländische Zeitung berichtete darüber, als der Ständige Ausschuß der Ärzte in der Europäischen Gemeinschaft die Tötungen in den Niederlanden verurteilte. Alle im Ständigen Ausschuss der Ärzte in der Europäischen Gemeinschaft vertretenen Mitgliedstaaten (ausgenommen Holland) betonten in der Erklärung von Berlin 1987: „jede Handlung, die darauf abzielt, den Tod eines Patienten her­beizuführen, widerspricht der medizinischen Ethik.“ Etwas später schliesst sich auch die World Medical Association an. Sie ver­wirft jede Euthanasie und verurteilte sie als unethisch. Daran hat sich bis heute nichts geändert. 1993 wurde auf Antrag Belgiens den Niederlanden nach einer heftig verlaufenen Debatte aufgrund ihrer Euthanasiepraxis der turnusmässige Vorsitz im Ständigen Ausschuss der Ärzte in der EG verweigert.

Es gibt in Holland zwei ärztliche Standesvertretungen: die „Koninklijke Nederlandsche Maatschappij tot bevordering der Geneeskunst“ (KNMG), die Euthanasie befürwortet, und der vor zwanzig Jahren gegründete Nederlands Arztenverbond (NAV). Die deutsche Bundesärztekammer behandelt beide gleichwertig.

Anlässlich der jahrelangen Diskussion eines Euthanasiegesetzes in Holland schrieb der NAV am 20. Februar 1992 „To the board of National Medical Associations in Europe and abroad“ und schilderte den Euthanasie–Standpunkt der Remmelink–Kommission, der KNMG,der NAV sowie den Gesetzesvorschlag des Kabinetts mit der Bitte um Stellungnahme zu folgenden Fragen: „1. Which point of View is nearest to your own organisation´s position? Why? 2. Which point of view has the least resemlance to your arganisation´s? Why? 3. In What way does your point of view differ from the Dutch cabinet´s position? 4. If your gouvernement would decide to take the same position as the Dutch cabinet. In what way would it influence your own point of view?“[11] Alle Verbände anworteten zufriedenstellend. Gunning von der NAV berichtet: „Kein einziges Land hat irgendeinen Hinweis darauf gegeben, dass sich seine Haltung in der Euthanasiefrage irgendwie geändert hätte.“ Die Antwort von Karsten Vilmar, dem Präsidenten der deutschen Bundesärztekammer, ist ein Zeitdokument. „The doctor´s obligation is to serve the life of the patient from its beginning to its end. This is contradictory to the idea of euthanasia or withholding of treatment or the administration of an overdosis in order to kill the patient. The point of the Remmelink–Committee, the cabinet´s proposal, as well as the point of view of the KNMG are unacceptable for us. We strictly obey to the oath of Hypocrates, the declaration of Geneva by the World Medical Association as well as our professional rules of conduct,[12] none of which does permit euthanaia or other actions to intentionally end the life of the patient. … it is unacceptable for the majority of doctors around the world.[13] … if such a point of view were under discussion in the gouvernement, it would force us to strictly oppose.“

 

 

4. Neues „Gesetz über das Bestattungswesen“ in den Niederlanden; Patiententötung durch Ärzte in „Notsituationen“ und „mit Sorgfalt“ endgültig straffrei.

 

Während in ganz Europa Patiententötung bestraft und als Verbrechen gegen die Menschlichkeit angesehen wird, wird sie das nach niederländischem Strafgesetz heute nur noch auf dem Papier. Tötende Ärzte werden dort schon lange nicht mehr strafrechtlich verfolgt. 1993 gab der niederländische Gesetzgeber sowohl „freiwillige“ als auch „unfreiwillige“ Euthanasie de facto frei. Niederländische Ärzte dürfen seit 1993 Patienten töten, wenn sie sich in einer angeblich „ausweglosen Notsituation“ befinden.

Seit dem 1. November 1990 gilt neben dem Stafgesetzgesetz in den Niederlanden ein „Meldeverfahren“, auf welches sich die grössere der beiden niederländischen Ärztegesellschaft, die Euthanasie legalisieren möchte, und das niederländische Justizministerium in einer Art Kabinettspolitik geeinigt haben. Man hatte das Meldeverfahren eingeführt, weil sich unter dem Einfluss einer exzessiven Ideologie der „Selbstbestimmung“ im Gefolge der 68er Revolte innerhalb des vorhergehenden Jahrzehnts eine wilde Euthanasiepraxis im ganzen Lande entwickelt hatte, bei der weder Regierung, noch Justiz, noch Polizei, noch die Ärzteschaft auch nur annähernd einen Überblick hatten, wieviel Menschen umkamen. Bezeichnenderweise wurde die Kampagne gerade aus der Ärzteschaft heraus unter Mithilfe von Medien, Regierung und Justiz lanciert. Bis 1990 hatten immer mehr Ärzte Patienten getötet, einige waren dafür bestraft worden, mit der Zeit wurden immer weniger bestraft und die Strafen immer geringer. Immer mehr wurden freigesprochen, weil sie angeblich in einer „Notsituation“ gehandelt hätten, bald wurden immer mehr Fälle erst gar nicht mehr zur Anklage gebracht: „Down the splippery slope!“ Tausende Menschen starben – „freiwillig“ – durch die Hand ihrer Ärzte.

Um die Situation wenigsten etwas überschaubar zu machen und auch nur ein kleines formales Regulativ einzubauen, verlangte man in dem neuen Meldeverfahren ab 1990 von einem Arzt, der einen Patienten aus „Mitleid“ getötet hatte, nachträglich wenigstens einen schriftlichen Bericht. Das niederländische Justizministerium spricht heute davon, man habe sich auf „freiwilliger Grundlage“ hierauf geeinigt. Ab diesem Zeitpunkt wurden aber noch weniger Anklagen wegen Patiententötung erhoben. Das Töten selbst ging aber unvermindert weiter. Bereits ein Jahr später erfuhr man, dass über fünzig Prozent aller Ärzte, die Euthanasie begingen, auf den Totenschein „natürliche Todesursache“ schrieben. Heute haben wir bereits die ersten Freisprüche wegen Tötung psychiatrischer Patienten.

Insgesdamt vier Gesetzesvorschläge hat es bis heute gegeben, und dem Land drohte zeitweilig die radikale Abschaffung der beiden Artikel 293 und 294 („Tötung auf Verlangen“ und „Beihilfe zum Suizid“). Ein – allerdings katastrophaler – Kompromiss, in das Dunkel der wilden Tötungen auch nur etwas Licht zu bringen, ist die jetzige Gesetzesänderung, die voriges Jahr die letzte parlamentarische Hürde genommen hat. Das niederländische Parlament verabschiedete am 30. November 1993 mit nur zwei Stimmen Mehrheit – Zwei Stimme entscheiden über Tod und Leben! – das lange bekämpfte und europaweit von der Ärzteschaft geächtete Euthanasiegesetz. Damit verlieh man der seit Jahren bestehende Praxis der Tötung einen formalen Rechtsstatus.

Das Gesetz geht auf eine gemeinsame Vorlage der Regierungskoalition aus Christdemokraten und Sozialisten zurück. Während das Gesetz im Februar 1993 noch mit grosser Mehrheit in der Zweiten Kammer abgelehnt worden war, stimmten im November dann plötzlich ein grösserer Teil der Christdemokraten zu und machten eine Mehrheit für das Gesetz möglich, weil sie für den Fall eines entgültigen Scheiterns dieser Vorlage in den nächsten Jahren eine erneute, viel schärfere Gesetzesvorlage fürchteten, die dann sogar zur Abschaffung von Art. 293 und 294 führen könnte. Jedenfalls hatten Justizminister Hirsch Ballin (einer der Väter des Gesetzes) und Ministerpräsident Lubers bei ihren Parteikollegen mit der Argumentation Erfolg, es werde ein noch viel schlimmeres Gesetz kommen, wenn man nicht dieses jetzt unter Dach und Fach bringe. Zudem versprach man den Abgerodneten der eigenen Partei, deren Stimme man so sehr brauchte, man werde die Kontrolle verschärfen. Allein, als nur eine leise Forderung aus christdemokratischer Seite auf­tauchte, man solle die Ermittlung und Regi­strierung aller Euthanasiefälle forcieren, weigerte sich der Justizminister bereits, das zu tun.

Der Kompromisscharakter dieses neuen Gesetzes besteht darin, dass Artikel 293 und 294 auf dem Papier unangetastet bleiben. Die Verfahrensvorschriften aber, die in das „Gesetz über das Bestattungswesen“ – zynischerweise hat man sich dieses ausgesucht! – neu eingebaut wurden und welche Straffreiheit für „Tötung auf Verlangen“, „Beihilfe zum Suizid“, und „aktive Sterbehilfe ohne Verlangen“ garantieren, setzen Artikel 293 und 294 in Tat und Wahrheit absolut ausser Kraft. Wir haben also heute in Holland die groteske Situation, dass das Strafgesetzbuch allen im Staat das Töten verbietet, dass aber das „Gesetz über das Bestattungswesen“ Ausnahmen davon definiert, nämlich Ärzte, die in einer vorgeblichen „Notsituation“ töten.

Im Gesetz steht aber kein Wort, was denn nun Euthanasie sei. Nirgendwo findet man definiert, wann ein Arzt „Euthanasie“ begeht (also entschuldigt ist) und wann er „wirklich“ tötet (also bestraft werden soll). Kein Wort im Gesetz darüber, dass Beihilfe zum Suizid in den Niderlanden mittlerweile als „normale medizinische Praxis“ verstanden wird. Kein Wort darüber, warum Tötungen von Patienten, die ihren Todeswunsch nicht geäussert haben „normale medizinische Praxis“ genannt werden.

 

 

5. Zuerst töten – dann melden: das niederländische Meldeverfahren für Patiententötungen

 

Zivilisierte Staaten unterscheiden zwischen natürlichen und unnatürlichen Gestorbenen. Letzteres verfolgt man international als Tötung oder Mord. Allein die Niederlande kennen zwei Gruppen unnatürlich Gestorbener: Tötungen, die bestraft werden und Tötungen durch Ärzte, die – falls „korrekt“ durchgeführt – nicht bestraft werden.

Das neue niederländische „Euthanasie“gesetz besteht aus ein paar relativ unbedeutenden Worten, mit denen das „Gesetz über das Bestattungswesen“ erweitert wurde. Das eigentlich Wichtige sind die ergänzenden Rechtsvorschriften. Diese beschreiben rein formal ein Verfahren, wie ein Arzt Patiententötungen korrekt melden muss – nachdem er sie begangen hat! –, um nicht bestraft zu werden. Die Rechtsvorschriften enthalten keine inhaltlichen Aussagen darüber, welche Patienten der Arzt töten „darf“. Was „Euthanasie“ ist und was nicht, beschreibt im wesentlichen die Königlich Niederländische Medizinische Gesellschaft (KNMG). Nach Unterlagen der KNMG, die nicht im Gesetz aufgenommen wurden, werden auch „lebensbeendende Massnahmen“ bei Komapatienten, geistig behinderten Alten, schwer missgebildeten Neugeborenen und psychisch Gestörten befürwortet (siehe Kasten). Die KNMG ist aber nur eine der beiden ärztlichen Standesvertretungen in den Niederlanden, und zwar die, die „Euthanasie“ befürwortet. Der Niederländische Ärzteverband (NAV), die zweite Standesgesellschaft, die Patiententötungen ablehnt, wird gar nicht erst gefragt, sondern als „fundamentalistisch“ und ähnliches mehr abgetan. Weralso in sogenannten „Notfällen“ getötet werden darf, definiert die KNMG und weitere gesellschaftliche Gruppen, die sich im ideologschen Kampf an die Spitze gebracht hat. Dass und wie „richtig“ im Sinne der Meldevorschrift getötet wird, darüber wacht der Staat.

So wird auch verständlich, warum Artikel 10 des neugefassten Bestattungsgesetzes für alle Fälle einer nicht natürlichen Todesursache zwei Meldeformulare für den amtsärztlichen Leichenbeschauer einführt, die dieser gegenüber dem Bezirksstaatsanwalt verwendet: Das erste Meldeformular erfasst „Ableben infolge der Anwendung von Sterbehilfe auf Verlangen durch einen Arzt, die Hilfeleistung bei Selbsttötung oder die aktive Sterbehilfe ohne ausdrückliches Verlangen“. „Sterbehilfe auf Verlangen“ bezeichnen die Niederländer als „Euthanasie“. Das zweite Meldeformular dient für „Ableben infolge einer anderen Ursache“, also nicht durch Arztes Hand Getötete.

Der Normalbürger tötet also. Der Arzt aber hilft nach dieser Logik, wenn er – korrekt versteht sich, sonst wird auch er bestraft – das gleiche tut. So wurde aus „Tötung“ „Sterbehilfe“. Begeht nun ein Arzt „Sterbehilfe auf Verlangen … Hilfeleistung bei Selbsttötung oder … aktive Sterbehilfe ohne ausdrückliches Verlangen“, ruft er anschliessend den amtsärztlichen Leichenbeschauer, der dreierlei tun muss:

Erstens untersucht er die Leiche – rein äusserlich! (niederländisch: toetsen = Urteilsbildung durch Abtasten)

Zum zweiten füllt er das Meldeformular – erster Typ – aus, worin er versichert, (a) der/dem Verstorbenen „während der letzten beiden Jahre keinen Beistand als Arzt geleistet zu haben“, (b) dass „der behandelnde Arzt ihm mitgeteilt hat, daß der Tod infolge der Anwendung von Sterbehilfe auf Verlangen / der Hilfeleistung bei Selbsttötung / der aktiven Sterbehilfe ohne ausdrückliches Verlangen (Nichtzutreffendes bitte streichen) eingetreten ist“, (c) vom Arzt eine „schriftliche Willenskundgebung“ des Patienten bekommen zu haben. Dafür müssen unter anderem folgende Fragen beantwortet sein: „Wann und wem gegenüber wurde das Verlangen zuerst geäussert? Wann und wem gegenüber wurde das Verlangen wiederholt? Ist eine schriftliche Willenskundgebung vorhanden? … Wenn nein, welchen Grund hat das?“

Zum dritten bekommt der Leichenbeschauer vom tötenden Arzt einen Bericht, dessen Angaben er bestätigt, „verifiziert zu haben“. Dieser Bericht folgt einem ebenfalls durch das „Gesetz über das Bestattungswesen“ festgelegten Fragebogen, der am 22.12.1993 fünfzig Punkte umfasste, unter anderen folgende: die Krankengeschichte, eine Bestätigung, dass es der freie Wunsch des Patienten war, durch den Arzt getötet zu werden; oder „was die Ursache [dafür war], dass der ausdrückliche Wunsch des Patienten nicht vorlag“, mit welchen Kollegen sich der Arzt beraten hatte; wer, wie tötete und wer dabei Zeuge war.

Wohlgemerkt: Dies alles wird vom Arzt ausgefüllt und vom Leichenbeschauer „verifiziert“, nachdem der Patient tot ist! Der Leichenbeschauer, der die Leiche nur äusserlich untersucht hat, gibt den Bericht des behandelnden Arztes und das ausgefüllte Meldeformular an den Staatsanwalt weiter.  Dieser entscheidet nach den ihm vorliegenden Unterlagen über die Aufnahme einer Strafverfolgung. Hat der Arzt alle Regeln der „Sorgfalt“ beachtet und scheint dem Staatsanwalt daher der Fall in Ordnung, sieht er in der Regel von einer Strafverfolgung ab. Die Regeln der „Sorgfalt“ zu beachten, bedeutet für den Arzt, in seinem nach der Tötung verfassten Bericht darzulegen, in einer „auswegslosen Notsituation“ gewesen zu sein, in der er dem Patienten nur noch dadurch hel­fen konnte, dass er ihn tötete. Es wird dabei vorgeschrieben, es müsse sich um ein „auswegloses und unumkehrbares“ Leiden han­deln. Bekommt der Staatsanwalt die Unterlagen, ist der einzige verlässliche Zeuge, der Patient, nicht mehr. Der Arzt konnte in seinen Bericht schreiben, was er wollte. Da man von keinem Menschen erwarten kann, dass er gegen sich selbst aussagt, sind diese Berichte in der Regel in Ordnung.

Am 1.2.1994 versucht der niederländische Justizminister Hirsch Ballin die für einen Rechtsstaat untragbare Melderegelung, wonach der Arzt zuerst tötet und anschliessend den rechtfertigenden Bericht alleine „korrekt“ abfasst, zu rechtfertigen. Er muss das Problem selbst zugeben: „Es geht nicht darum, daß gemeldet wird. sondern was gemeldet wird.“ Was er wohlweislich verschweigt: Im regierungsamtlichen Remmelink–Bericht von 1990/91 wird aufgedeckt, dass in der Mehrzahl aller untersuchten Fälle der Leichenbeschauer in Wirklichkeit gar nicht vom Arzt darüber informiert wurde, daß der Patient getötet wurde. Da bei Patiententötungen Autopsie, Befragung der Verwandten und längere Untersuchungen drohen, geben 65 bis 75% – so der Remmelink–Bericht – der niederländischen Ärzte auf der Sterbeurkunde eines getöteten Kranken einfach eine natürliche Todesursache an, obwohl natürlich die Fälschung einer Sterbeurkunde ein Vergehen ist. Von den mehreren tausend „Euthanasie“toten jedes Jahr wurden daher im Jahre 1987 nur 197, 1988 nur 180 und 1989 nur 340 Fälle tatsächlich berichtet. Trotzdem rechtfertigt der Justizminister 1994 die absurde Regelung, zuerst zu töten und dann zu melden: „Von außerordentlicher Bedeutung ist die Bereitschaft der Ärzteschaft, Meldungen vorzunehmen … 1992 wurde in 1320 Fällen Meldung über die Beendigung eines Lebens auf Verlangen erstattet. Dies beweist, daß diese Bereitschaft bei den Ärzten vorhanden ist. Das ist erfreulich, denn es ist sehr wichtig, daß die Meldungen auch tatsächlich gemacht werden …“ –– „tatsächlich gemacht werden“: dem ist nichts hinzufügen!

Ethik muss nach Aristoteles Grundlage der Politik sein. Entweder wir verbieten allen das Töten, oder wir lassen den Dingen freien Lauf. Absurd ist es, Täter darauf verpflichten zu wollen, ihre Tötung nachträglich zu melden, damit man kontrollieren könne, ob sie richtig gehandelt haben. Man kann nicht durch eine Pflicht, nachträgliche Meldung von der Tat zu machen, den Täter dazu erziehen, nur nur dann zu töten, wenn es „richtig“ ist. Das niederländische Gesetz kann und will keine Tötungen verhindern. Dann würde es zumindest definieren, wen man töten darf und wen nicht. Das Gesetz ist in Wirklichkeit ein Freipass: Zuerst tötet man, dann soll man wahrheitsgemäss berichten, was man getan hat – Papier ist geduldig und der Zeuge tot!

 

 

6. Wenn wirklich mit „Sorgfalt“ getötet wird …

 

Die niederländische Regierung betont, „Euthanasie“ sei trotz neuem Gesetz weiterhin strafbar. Es gebe lediglich „Notstände“, in denen ein Arzt nur noch „helfen“ könne, indem er tötet. Nur in solchen Fällen werde von Strafe abgesehen. Damit kein Missbrauch mit dieser „Erlaubnis“ zum Töten betrieben werden könne, hat man ein „Meldeverfahren“ eingeführt, welches vor Missbrauch schützen soll. Wieviel dies wert ist, zeigen wir nun an einem Beispiel aus der Praxis.

Das niederländische Kabinett war nach der ersten Abstimmung über das neue Euthanasiegesetz in der Zweiten Kammer des Parlaments im Februar 1993 verärgert über ein Interview, das Mgr. Sgreccia, Sekretär des Päpstlichen Rates für die Familie, am 22. März 1993 Radio Vatikan gegeben hatte: „Für Hitler waren die Juden oder die Geisteskranken nicht zweckdienlich, und für diesen Typ von Gesellschaft, die im Vergleich zu der Zeit Hitlers hedonistisch ist, gilt die gleiche Überlegung.“ Man zitierte Mgr. Sgreccia ins niederländische Aus­senminsterium und erklärte ihm, er habe die Gesetze­svorlage „falsch interpretiert“! Wie aber kann der päpstliche Legat „falsch interpretieren“, wenn die staatliche Remmelinkkommission selbst mehr als dreitausend Patiententötungen mit und deren Willenäusserungen pro Jahr öffentlich zugibt! Die Katholische Nachrichtenagentur (KNA) in Deutschland meldete im Februar 1993 zu recht: Es „muß befürchtet werden, dass früher oder später – in Holland oder anderswo – der zweite Schritt folgen wird, die Freigabe der Tötung des lästigen »unwerten« Lebens unheilbarer Geisteskranker. Die Deutschen hatten das ja schon. Sie schämen sich noch immer dieses tiefdunklen Kapitels ihrer Geschichte.“ – Die Warnung der KNA ist leider bereits grausame Wirklichkeit geworden.

 

Damals …

Hitler wusste offensichtlich, warum er die „Euthanasie“ nie öffentlich thematisiert hat. Nie wäre im „Dritten Reich“ die Tötung eines Psychiatriepatienten in einer Zeitschrift für Volksgesundheit oder einem öffentlichen Bericht beschrieben worden. Als trotzdem Informationen durchsickerten und Unruhe und Proteste aus der Bevölkerung immer mehr zunahmen, wurden den Beunruhigten in Filmen wie „Ich klage an!“ sogenannte „Gnaden“tötungen vorgeführt, bei denen der Tod als etwas Schönes dargestellt wurde. Und man betrieb das Töten weiter, nur noch versteckter.

Viele der 4 261 holländischen Ärzte, die 1941 einen Protestbrief an den Deutschen Reichskommissar im besetzten Hol­land unterzeichneten, worin sie sich offen zum Leben als höchsten Wert bekannten, kamen ins Konzentrationslager, aber die nationalso­zialistischen Euthanasiepläne wurden in Hol­land nie durchgeführt, und kein holländischer Arzt unterzeichnete damals eines jener Ar­beitsfähigkeitszeignisse, die den Transport in ein Lager bedeuteten.

 

… und heute

Niederländische „Euthanasie“befürworter müssen heutzutage nicht vorsichtig sein. Im „Maandblad Geestelijke volksgesondheitd“ Nr. 7/8 aus dem Jahre 1993 veröffentlichte der aus der NZZ bekannte niederländische Psychiater Chabot, Aktivist der Niederländischen Vereinigung für freiwillige Euthanasie, die Fallbeschreibung der Tötung einer psychiatrischen Patientin – knapp ein halbes Jahrhundert sind vergangen seit den nationalsozialistichen Morden an Anstaltspatienten! – unter dem schönfärberischen Begriff „Euthanasie“ (eu thanatos = schöner Tod). Es handelte sich um eine magersüchtige junge Frau, die schon seit ihrem achten Geburtstag Nahrung verweigert und in der Folge von 30 auf 19 kg abgenommen hatte. Mit neun Jahren war von ihrem Kinderarzt die Diagnose „Anorexia Nervosa“ gestellt, und das Mädchen in den folgenden Jahren immer wieder zur Sondenernährung in einer Klinik eingewiesen worden, daneben hatte sie mehrmals (jugend)psychiatrische Abteilungen besucht. Mit 18 Jahren nahm sie sich ein eigenes Zimmer. Die Eltern liessen sich etwa zur gleichen Zeit scheiden, und ihr Bruder geriet in eine Depression. Ab etwa ihrem zwanzigsten Lebensjahr  hatte sie erste Todeswünsche, denen sich der Bruder etwas später anschloss. Sie besprachen während der nächsten vier Jahre zusammen immer wieder die Frage, wie sie sich gemeinsam umbringen könnten. 1990 erstickt sich der Bruder schliesslich und die Schwester will ihm ins Grab folgen. Im Oktober 1991 sieht der behandelnde Arzt „keine weitere Behandlungsmöglichkeit mehr“. Er fürchtet sich „vor einem Suizid nach der Art des Bruders oder erneuter Magersucht, bei der sie Sondenernährung und Einweisung in die Klinik verweigern würde.“ Weder der darafhin vom behandelnden Arzt zugezogene Kollege noch der Klinikpastor sehen einen Weg, und so wird sie getötet ….  Die Euthanasieideologen aus der Königlich Niederländischen Medizinischen Gesellschaft stehen auf dem Standpunkt, dass es egal sei, welche Motive einen Arzt bewegen. Wenn die Resultate zweier Handlungen gleich seien, dann könne man diese nicht mehr unterscheiden. Ob diese Patientin also daran starb, dass ihr der Arzt die tötliche Spritze gab oder ob sie starb, weil der Arzt ihr ein Medikament reichte, welches sie dann selbständig einnahm, ist also nach niederländishcem Verständnis gar nicht entscheidend. Chabots Fallbeschreibung spricht denn auch nur von „Euthanasie“ und sagt gar nicht, wie die Patientin zu Tode kam.

Ein Magersuchtspezialist, ein Internist und ein Ethiker hatten dem Gericht gegenüber als Sachverständige ausgesagt, dass es vom wissenschaftlichen Standpunkt aus „keine echten Alternativen mehr gegeben habe und dass Doktor A allen Sorgfaltspflichten Folge geleistet habe.“ Die Statsanwaltschaft bestätigte, dass der Arzt „nach den Sorgfaltsgeboten gehandelt habe und Berufung aus Notstand gerechtfertigt sei.“ Sie verzichtete auf Berufung, und das Verfahren wurde eingestellt.

 

Berufsethik in Gefahr

Man steht erschüttert vor diesem Zeugnis dieser „Kultur des Todes“. Nach dem regierungsamtlichen Bericht aus dem Jahre 1990/91 geschehen jedes Jahr in den Niederlanden rund vierhundert „Beihilfen zum Suizid“! Noch schrecklicher: Sie werden dort erst gar nicht als Tötung, sondern als „Hilfe“ bezeichnet! Ist es da ein Wunder, dass Ärzte, die jahrelang Patiententötungen als „normales“ Mittel für „aussichtslose“ Fälle vorgeführt bekommen haben, dann eben auch lernen, sich am Ende aller ärztlichen Kunst zu fühlen, wenn sie mit einem Patienten nicht mehr weiterkommen? Kann man ermessen, welch gewaltige Folgen diese Praxis auf die Behandlungsethik ganzer Generationen von Ärzten, Psychiatern und Psychologen haben wird? Jeder dieser Getöteten ist ein schreiende Unrecht. Ein Arzt aber, der einen Patienten tötet, weil er nicht mehr weiter weiss, hat diese hoffnungslose Haltung auch – bewusst oder unbewusst – gegenüber allen anderen therapeutischen Problemen. Und er wird dadurch gleichsam zum Multiplikator der Hoffnungslosigkeit. Im Grunde könnte er doch eigentlich überhaupt nicht in der Lage, wirklich Helfer zu sein, und müsste seinen Beruf quittieren. Denn ihm fehlt das Wichtigste: Der lange Atem, die nie versiegende starke Hoffnung, doch noch vielleicht helfen zu können, doch noch vielleicht retten zu können, doch noch einen Weg zu finden. Woran soll sich der Depressive aufrichten können, wenn nicht an dem unerschütterlichen, festen Gefühl des Helfenden, dass es doch im Leben immer eine Lösung gibt, wenn sie auch nicht in Sicht sein mag. Daraus besteht doch die Not des Patienten, dass er keine Hoffnung mehr hat, dass ihm das Leben aus der Hand gleitet. Und wenn einer ihn retten kann, dann der, der so breite emotionale Schultern hat, dass er den anderen so weit durch den Fluss tragen kann, bis dieser seinen Mut wieder gefunden hat, Land sieht, erste Schritte wagt, um wieder selbst laufen zu lernen.

Einem Elektriker, der nicht weiss, was Strom ist, würde man – zu recht – wegen Unfähigkeit die Lizenz entziehen. Und wie ist das bei einem Psychaiter, der einen Patienten tötet, weil er nicht mehr weiter weiss, oder bei einem Arzt, der Magersucht als Tötungsgrund hinnimmt?

Noch krasser wird es wenn wir uns folgendes Beispiel vor Augen halten:

 

»Wir brauchen das Bett – geben Sie die Spritze!«

Irgendwo in den Niederlanden, mehr als vierzig Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges und des Massenmordes an Kranken und Behinderten: Ein Internist wird zu einer schwer leidenden Krebspatientin gerufen, die wahrscheinlich noch 14 Tage zu leben hat. Um ihr zu helfen, muss er sie ins Krankenhaus überweisen. Die Dame hat Angst, will nicht, denn sie fürchtet, dort getötet zu werden. Der Arzt antwortet ihr, sie solle ruhig am Samstagmorgen kommen. Er werde sie persönlich aufnehmen und für ihre Sicherheit sorgen. Die Patientin ist beruhigt, kommt, wird aufgenommen. Am Sonntagabend ist ihre Atmung wieder frei, und es geht ihr den Umständen entsprechend viel besser, als der Arzt am Sonntag die Klinik verlässt. Am Montagnachmittag kommt der Arzt wieder – die Patientin ist tot! Ein Kollege hatte angewiesen: „Was soll diese Dame hier? Es macht doch keinen Unterschied, ob sie heute oder in vierzehn Tagen stirbt. Wir brauchen das Bett. Also Schwester, geben sie die Spritze.“ Diese, vom Sekretär des Niederländischen Ärzteverbandes (NAV), Gunning, am 16. 7. 1993 auf dem Internationalen Symposium. »Euthanasie in Europa« in Straßbourg berichtete Patiententötung wirft ein grelles Licht auf die niederländische Euthanasiepraxis und soll all denen ein warnendes Beispiel sein, die glauben man könne „ja mal darüber nachdenken“, Patienten – in schweren Fällen versteht sich! – zu „erlösen“.

„Herr Zeuge“, wurde am 16.1.1947 Walter Schmid, einer der nationalsozialistischen Tötungsärzte, vor dem Militärgerichtshof in Nürnberg gefragt, „war die Euthanasie auf solche Personen beschränkt, die ohnehin hatten sterben müssen, also Personen, die sozusagen auf dem Sterbebett lagen?“ Und der Arzt gab die schreckliche Antwort: „So haben wir das aufgefasst, wenn die Betreffenden geisteskrank waren oder es handelte sich um eine schwere Mißbildung mit Geisteskrankheit oder Idiotie und wenn weitere körperliche Krankheiten vorhanden waren.“ Zuvor hatte er die noch schrecklichere Aussage gemacht: „Die widersprenstigen Kranken haben sich oft geweigert, in die Omnibusse zu gehen; das ist selbstverständlich.“ Diese Busse fuhren ins Gas. Zwischen beiden Szenen liegen mehr als vierzig Jahre. Der Widerspruch ist der gleiche geblieben: Töten aus Nützlichkeitserwägugnen wird legitimiert durch schönes Gerede von „Freiwilligkeit“, „Erlösung“ und ähnlichem.

Die niederländische Regierung wehrt sich, um ihr Gesicht international wahren zu können, energisch, sie wolle legalisiere Tötungen. Ihre – wie sie sagt – »zivilisierte Praxis« der Euthanasie habe nichts mit der »Vernichtung lebensunwerten Lebens« durch die Nationalsozialisten zu tun. Und eine Gruppe moderner »Philosophen« – unter ihnen Singer, Kuhse, Hoerster, Leist und andere – liefert ihnen die nötige Rechtfertigung dazu: Die Nazis seien von Interessen ausgegangen, die sie »von aussen« an den Patienten herangetragen hätten (»Aussenkriterium«). In den Niederlanden gehe es heute aber nur um die Interessen, die aus dem Patienten selbst stammen (»Innenkriterium«). Man töte nur, weil Patienten dies wollen. Das sei im Dienste der Selbstbestimmung. Der sogenannte Remmelink–Report untersuchte 1990/91 die niederländische Euthanasiepraxis und förderte zutage, dass von 9´000 Patienten, die aus »freien Stücken« den Wunsch äusserten euthanasiert zu werden, »nur« 2´300 die »Erlaubnis« dazu bekamen. Dies und die beiden oben oben genannte Fälle zeigen überdeutlich, dass in Wirklichkeit hinter der heuchlerischen Ideologie der »Selbstbestimmung« ein handfestes Interesse steckt, das an den Patienten von aussen herangetragen wird – sei es die Unfähigkeit eines ideologisch verblendeten Psychiaters, der fachlich nicht auf der Höhe der Forschung ist und seine Unfähigkeit durch Töten kompensiert, oder sei es – wie im zweiten, berichteten Fall – aus Rohheit, Gefühlskälte und reinem Interesse am leeren Bett. Ein anderes Mal ist es etwas anderes. Auf jeden Fall ist es die Einschätzung des Falls durch den Arzt (»Aussenkriterium«), Organisatorische Mängel, Ausbildungsdefizite bei Ärzten und Personnal, ethische Defizite der Umwelt des Kranken, die darüber bestimmen, ob getötet wird, nicht der Wunsch des Patienten (»Innenkriterium«).

Sterben wollen und getötet werden wollen sind zwei grundverschiedene Gefühle. Den Patienten tatsächlich zu töten ist etwas Drittes und kann nicht nicht mit den ersten beiden Gefühlen legitimiert werden, denn es gibt keine Kausalität zwischen diesen drei Dingen.

 


Anmerkungen

[1]     Wenn nicht anders vermerkt, sind die folgenden Zitate diesem Artikel entnommen.
[2]     Thomas, K. Warum weiter leben? Zitiert nach: Hetzel, D. Muß man leben? S. 19.
[3]     Dorrmann, W. Suizid – Therapeutische Interventionen bei Selbsttötungsabsichten, S. 14.
[4]     Hetzel, D. Muß man leben? S. 19. [Hetzel weist dies als Zitat einer unveröffentlichten Diplomarbeit von A. Jung aus.]
[5]     Hetzel, D. Muß man leben? S. 20.
[6]     Jung, C. G. Briefe II 1946-1955. Zitiert nach: Hetzel, D. Muß man leben? S. 20.
[7]     Dies wird interessanterweise dem Arzt ohne Begründung unterschoben, und so erschleicht man sich Argumente! Dabei kann man sich heute sehr gut in den Suizidpatienten hineindenken.
[8]     Hetzel, D. Muß man leben? S. 20.
[9]     Hetzel, D. Muß man leben? S. 20.
[10]   Amery, J. Hand an sich legen, S. 24: Zitiert nach: Hetzel, D. Muß man leben? S. 20.
[11]   Original in Englisch, Übersetzung: 1. Welcher Standpunkt entspricht dem Ihrer eigenen Organisation und warum? 2. Welcher Standpunkt entspricht dem Ihrer Organisation am wenigsten und warum? 3. In wieweit weicht Ihr Standpunkt von dem niederländischen ab? 4. Was würden Sie sagen, wenn Ihre Regierung die Entscheidung träfe, es den Niederländern gleichzutun?
[12]   Die Deutschen haben die hervorragenden und europaweit ersten Richtlinien für die Sterbehilfe von der Schweizerischen Akademie der Wissenschaften mit wenigen Ausnahmen wörtlich übernomen. Hiermit sind indirekt also auch die Schweizer Richtlinien gemeint!
[13]   „nicht zu akzep­tieren, und es widerspricht der Haltung aller Ärzte in der ganzen Welt.“

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