Ist der Mensch eine Amöbe?

10. Februar 1992

Moritz Nestor

Am 10. Februar 1994 strahlte SAT1 «Schreinemackers live» aus. Die Moderatorin Margarete Schreinemacker hat einen «Gast» geladen, der eine «Leidenschaft» demonstriert: Nico sitzt in einem Laufstall, kerngesund, intelligent, geht zur Schule, Er komme aus Dänemark und „übt“, wie die Moderatorin erklärt, «eine Leidenschaft aus». Nico: «Ich pinkle in die Windeln, ja! Das macht Baby». Der junge Mann sitzt zwischen Kissen in einem Laufstall, um den Hals einen Schnuller und nimmt ab und zu einen Schluck Orangensaft aus einer Schoppenflasche. Hinter ihm das Publikum, vor ihm in einem Halbkreis Margarete Schreinemackers neben zwei völlig in schwarzes Leder und grünen Gummi gehüllten Gestalten.

Gefragt, warum er glücklich sei, antwortet Nico: «Ich habe einen Liebhaber, einen Partner, der meine Spiele mitmacht. Der lässt sich davor nicht abschrecken, und das sind nur wenige, die das imstande sind zu tun.» Was denn die Eltern sagen würden, will die Moderatorin wissen. «Ja, meine Mutter macht sich etwas Sorgen, was meine Möglichkeiten betrifft, einen Arbeitsplatz zu finden. Aber mein Vater findet es gut, daß ich es mir zutraue und es wage, so an die Öffentlichkeit damit zu gehen.»

Margarete Schreinemacker: «Kann man sich das so im Sinne der herkömmlichen Kinderpflege vorstellen? So mit Puder und Feuchtigkeitstüchern, um den Popo sauberzumachen?»

Nico: «Ja! Das Ganze gehört dazu: mit nassen Läppchen … Das ist wunderbar!» Nur weinen könne er «nicht so gut wie ein richtiges Baby – leider.»

Margarete Schreinemacker: «Ist das Lochgröße drei für Brei und Fruchtsäfte?»

Nico: «Ich benütze den größten Schnuller für Grütze oder Milchbrei.»

Margarete Schreinemacker fragt feixend: «Nun geht das ja bei Schnul…. Hahahahaha! Nun geht das bei Schnullern, einverstanden! Aber bei Windeln, da brauchen Sie ja eine größere Ausführung? Und Gummihosen? Das würde ja auch mit den Pampers–Maxi nicht mehr hinkommen! Wo kriegen Sie denn Windeln her?» Nico bezieht Extraanfertigungen für kranke Alte, die ihr Wasser nicht mehr halten können. 16 Stück für etwa 25 Mark – er nimmt Stoffwindeln zum Auswaschen!

Das Riesenbaby hat sich politisiert: Er hat zu Hause einen Klub mit heute etwa dreißig Mitgliedern gegründet, den «Baby-Gum», «wo Menschen, die auch gerne Babys sind, sich hinwenden können.» Eine Zeitschrift gleichen Namens, von Nico herausgegeben, sorge für unbefangene Information über diese «Lebensform». Stolz ist Nico, dass er Gleichgesinnte hat:»“Ich finde, es sind doch überraschend viele. Ich habe bislang mit etwa hundert Dänen gesprochen und weiteren dreißig aus dem Ausland.»

Die Sendung reisst jede Achtung vor dem Menschen ein. Schreinemacker macht sich unverholen lustig über den Vorgeführten und muss sich oft zurückhalten, um nicht laut hinauszusprusten. Sie beherrscht sich zwanghaft und mimt die alles ernsthaft entgegennehmende Psychologin. Immer wieder setzt das Publikum zu Lachern an. Immer wieder hört man unterdrückte Gluckser.

Hier gilt nur ein Gesetz: Keine Norm! Darüber wacht Margarete Schreinemacker. Nico kann sich in diesem «Safe space» als einer unter vielen gleichgesinnten «Toleranten» fühlen und zufrieden ihre «Leidenschaft ausüben».

Um alle zum Schweigen zu bringen, die denken, es sei nicht normal, in Windeln zur Schule zu gehen,  präsentiert Margarete Schreinemacker alle  Perversionen einfühlsam, vorurteilslos. Vor ihrem Mikrophon werden alle gleich. Das Fernsehen als Zufluchstätte aller von der «repressiven Normalität» Ausgegrenzten. Hier dürfen sie alle gleich sein. Die Moderatorin nimmt sich dieser modernen Aussätzigen an. Man soll nicht lachen!

Die Kamera schwenkt ins Publikum, die Horror–Parade geht weiter. Margarete Schreinemacker: «Horst! Was Nico nicht kann, er kann ja seine Pampers am hellichten Tag nicht unter ´ne Jeans stecken. Da würde man komisch gucken. Sie haben ´ne Leidenschaft, die können Sie aber unter der normalen Kleidung verstauen? Was lieben Sie?»

Zwei stark emanzipierte Damen rechts und links neben Horst sind sichtlich stolz, dass sie gerade mit Horst durch Deutschlands Wohnzimmer flimmern. Sie verziehen keine Miene, als der befangene Horst etwas abgehackt erklärt: «Also, ich habe direkt Damenwäsche, BH, Slip, Body, Straps, Strumpfhosen, also alles, was in Richtung ‚Seide mit Spitze‘ geht.» Eine eingeblendete Schrift belehrt den Zuschauer: «Horst, Wäsche–Fetischist» Damit der staunende Zuschauer genau informiert ist, öffnet Horst das Hemd und zeigt der heranzoomenden Kamera den rot–schwarzen BH über seinem mageren Oberkörper.

Links neben Margarete Schreinemacker sitzt eine weitere «Lebensform». Eine von Kopf bis Fuß in Leder, Gummi und Plastik gezwängte Gestalt, die fatal an einen  Gladiator aus dem Circus Maximus erinnert. Diese Figur betrachtet aus zwei Sehschlitzen die Welt. Neben ihr eine in schwarzes Leder und schwarzen Plastik gehüllte Figur, die einen BH aus grünem Gummi über dem schwarzen Leder trägt. Schwarze Gummihandschuhe gehen ihr bis über die Ellenbogen, eine schwarze Halbmaske verdeckt ihr Gesicht. Auch sie sei kein «kein Monster». Wo alle keine Unterschiede mehr machen dürfen, da wacht die Moderatorin eisern über Einhaltung dieser Regel: Soll auch der letzte heute lernen, das es das alles gibt. Das ist auch nur ein Mensch. Wer hat je das Gegenteil behauptet?

Und dann hat Moderatorin schließlich auch ihr Coming–Out: Die Sendung «War auch für mich jetzt nicht ganz so einfach». Aber sie hat stolz vorgeführt, was wohl so schnell keiner vor die Kamera bekommt. Wie Jesus die Sünder, so sammelt Margarete Schreinemackers die von der «ausgrenzenden» Normalität geächteten «Lebensformen» um sich, und führt sie uns vor. Davor braucht man gar «keine Angst» zu haben. Man sieht der Schreinemacker, dass sie vieles lächerlich findet. Dies zu unterdrücken ist eben «nicht ganz so einfach», wie sie zugeben muß, «nicht weil ich jetzt ein Vorurteil oder so etwas habe, aber man hat ja nicht jeden Tag so damit zu tun. Und ich finde das klasse, daß Sie alle hier gesessen haben, darüber geredet haben.»

Nur ´mal darüber reden, das ist neue Toleranz. Der psychologische Small–talk auf Kosten des Betroffenen vor den lüsternen Augen eines Millionenpublikums – das Niveau kann nicht niedrig genug sein. Margarete Schreinemacker fährt fort, «es macht ja auch verständlich, dass, weil jemand eine Leidenschaft ausübt, er deswegen kein Monster sein muß.» Das ist die Moral der publizistischen Antidismkriminierungsfront: Jeder hat seine «Wirklichkeit», wer will schon sagen, was richtig und was falsch ist, wir reden daher über alles, denn alles kommt vor, und weil es vorkommt, muss man darüber reden. Komme nur keiner und finde etwas gut oder schlecht, fort mit jenen, die ein Urteil abzugeben haben, die eine Meinung haben. Die „polarisieren“ nur und stören das Reden und Schwafeln über jeden Dreck.

Nur ein Tabu kennt dieser wahrhaft «herrschaftsfrei Diskurs», der alle Ausgrenzung und Tabus bricht und keine Normen und Werte anerkennt: Habe kein Urteil! Glaube nicht, etwas werten zu dürfen! Alles Urteil ist schon ein Vorurteil. Sich selbst setzt man absolut. Man weiß, wer nicht mitreden darf: Der, der ein Urteil abzugeben hat, der etwas weiß.

Und über all dem Abbauen von angeblichen Vorurteilen, dem Einreißen angeblich schädlicher Tabus, vergißt man den Perversen, dem bitterstes Unrecht geschieht: Wie ein exotisches Tier dem staunenden Europäer des Neunzehnten Jahrhunderts wird er dem Fernsehpublikum des Zwanzigsten vorgeführt: Seht das gibt es auch, aber lacht nicht! Man ist unwillkürlich an die Menschenzoos aus dem Kolonialzeitalter erinnert, als Hagenbeck zum Beispiel «Wilde» und andere «minderwertige Rassen» neben Elefanten, Tiger und Giraffe den staunenden «höhenwertigen» Europäern gegen ein Eintrittsgeld ansehen liess.

Der arme Mensch, dem man dringend helfen müßte, von seiner Einsamkeit loszukommen, worauf er seine Perversion aufgeben würde, wird stattdessen vorgeführt, als wäre er „von Natur aus“ so. Ein «postmoderner Menschenzoo» im Studio! Sein gewordenes Leiden wird von fachfremden Pseudointellektuellen als unheilbar festgeschrieben. Es ist wie in jener Zeit, da man das „Irresein“ als unabänderliches oder „vererbtes“ Übel ansah.

Der schüchterne Horst, der unter seinem Hemd einen BH trug, kennt seine Einsamkeit als Ursache: «Ich hab da früher schon von meiner Mutter ‚mal so Sachen probiert.» Sagt er. «Das hat sich dann nach meiner Scheidung weiterentwickelt, und seit ich alleine lebe, ist das für mich eine Befriedigung. Und wenn ich die Sachen tragen kann, ist das tagsüber ein entsprechender (!) Reiz.» Die sensationsgeile Journalistin missbraucht das Leiden dieses Armen und stellt als «Lebensform» unter vielen dar.

Begründungspflichtig ist der Heterosexuelle, er muss sich vor dem Zeitgeisttribunal verantworten, das fordert, er dürfe nicht denken, der Mensch sei heterosexuell. Es geht gegen Normalität. Die Einheit von Leib, Seele, Geist, die in personale Beziehung tretende Person, was den Menschen zum Menschen macht, verschwindet. Und mit ihr die unveräusserliche Würde. Von dem vernunftbegabten Wesen, das in Freiheit Verantwortung für die Natur und den Mitmenschen übernimmt und sich bescheiden nicht besser weiss als der Nachbar, ist am Ende der Sendung nichts mehr übrig. Nur noch Körper, die sich gegen alles wehren, was ihrer Lust gefährlich sein könnte. Das Hohelied auf die spontane, ungehemmte, keine Grenzen kennende Bedürfnisbefriedigung. Der Mensch ist Bedürfnisbefriedigungsmaschine. Glück hat nichts mehr mit Verantwortung, Gemeinwohl und Humanität zu tun. Glück ist reduziert auf die optimale Impulsleitung vom Stamm, Kleinhirn und Rückenmark in alle Körperteile. Pfui dem Vernünftigen, der das «pervers» nennt. Er ist repressiv. Normal ist , was einmal nicht normal war. Der Heterosexuelle ist der neue Aussenseiter und muss sich rechtfertigen, dass er zweigeschlechtlich sein will.

 

 

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