Ist der Mensch eine Amöbe?

10. Februar 1992 Moritz Nestor

Gefragt, warum er glücklich sei, antwortet ein junger Mann vor laufender Kamera lächelnd: „Ich habe einen Liebhaber, einen Partner, der meine Spiele mitmacht. Der läßt sich davor nicht abschrecken, und das sind nur wenige, die das imstande sind zu tun.“ Was denn die Eltern sagen würden, will die Moderatorin wissen. „Ja, meine Mutter macht sich etwas Sorgen, was meine Möglichkeiten betrifft, einen Arbeitsplatz zu finden. Aber mein Vater findet es gut, daß ich es mir zutraue und es wage (!), so an die Öffentlichkeit damit zu gehen.“

Sie glauben, das „Coming–Out“ eines jugendlichen Homsex…, Pardon eines Schwulen mitzuerleben? Falsch! Wir sind auch nicht bei „Mainz wie´s singt und lacht“. Wir sind bei „Schreinemackers live“. Zelebriert wird die Vorführung der ober–hyper–super–exotischsten Perversionen – hier schlicht „Leidenschaften“ genannt. Der junge Mann sitzt lächelnd zwischen Kissen in einem Laufstall, um den Hals einen Schnuller und nimmt ab und zu einen Schluck Orangensaft aus einer Schoppenflasche. Hinter ihm das Publikum, vor ihm in einem Halbkreis Margarete Schreinemackers neben zwei völlig in schwarzes Leder und grünen Gummi gehüllten Gestalten.

Der junge Mann im Laufgitter ist kerngesund, intelligent, geht zur Schule, höchstwahrscheinlich ein Gymnasiast, Nico heisst er, kommt aus Dänemark und „übt“, wie die Moderatorin es modern umschreibt, nur „eine Leidenschaft aus“: „Ich pinkle in die Windeln, ja! Das macht Baby!“, so heißt seine „Leidenschaft“.

„Kann man sich“, interessiert sich die Moderatorin lebhaft, „das so im Sinne der herkömmlichen Kinderpflege vorstellen? So mit Puder und Feuchtigkeitstüchern, um den Popo sauberzumachen?“ Nico fühlt sich verstanden: „Ja! Das Ganze gehört dazu: mit nassen Läppchen … Das ist wunderbar!“ Nur weinen könne er „nicht so gut wie ein richtiges Baby – leider!“.

Margarete Schreinemacker will es in Sachen Schoppenflasche genau wissen: „Ist das Lochgröße drei für Brei und Fruchtsäfte?“ Nico weiß Bescheid: „Ich benütze den größten Schnuller für Grütze oder Milchbrei.“ Man ahnt vielleicht schon die nächste Frage, und die Schreinemackers stellt sie prompt feixend: „Nun geht das ja bei Schnul…. Hahahahaha! Nun geht das bei Schnullern, einverstanden! Aber bei Windeln, da brauchen Sie ja eine größere Ausführung? Und Gummihosen? Das würde ja auch mit den Pampers–Maxi nicht mehr hinkommen! Wo kriegen Sie denn Windeln her?“ Nico bezieht Extraanfertigungen für kranke Alte, die ihr Wasser nicht mehr halten können. 16 Stück für etwa 25 Mark – er nimmt Stoffwindeln zum Auswaschen!

Das Riesenbaby hat sich auch politisiert: Er, der lustvoll in die Windeln macht und sich von seinem „Liebhaber“ trockenlegen und den Hintern pudern läßt, statt seine ersten Liebesanbenteuer mit einem hübschen Mädchen zu machen, hat zu Hause einen Klub mit heute etwa dreißig Mitgliedern gegründet: „Baby-Gum“, „wo Menschen, die auch gerne Babys sind, sich hinwenden können.“ Eine Zeitschrift gleichen Namens, von Nico herausgegeben, sorgt für unbefangene Information über diese „Lebensform“. Stolz ist Nico, daß er Gleichgesinnte hat: „Ich finde, es sind doch überraschend viele. Ich habe bislang mit etwa hundert Dänen gesprochen und weiteren dreißig aus dem Ausland.“

Man könnte denken, es mit Irren zu tun zu haben. Die Sendung reisst jede Achtung vor dem Menschen ein. Im Grunde macht sie die Schreinemacker innerlich lustig über die wie Exoten Vorgeführten. Immer wieder muß sie sich zurückhalten, um nicht hinauzusprusten. Aber auch wenn sie sich aber über Nico – der übrigens, hätten wir nicht das Fernsehen, in Nichtbeachtung versinken würde – auch noch so lustig macht, sie beherrscht sich dann doch und mimt die alles ernsthaft entgegennehmende Psychologin. Immer wieder setzt das Publikum zu Lachern an, und am Stammtisch täten sie es sicher. Aber hier im Studio hört man nur immer wieder unterdrückte Gluckser. Denn Nicos und der anderen Vorführung folgt dem Gesetz: Keine Norm! Nico ist hier einer unter vielen gleichgesinnten „Toleranten“, die zufrieden ihre „Leidenschaft ausüben“ – wenn sie nur nicht im Alltag immer von den Normalen gestört würden! Es soll ja Leute geben, die glauben, es sei nicht normal, in Windeln zur Schule zu gehen! Aber Margarete Schreinemacker präsentiert die Perversen „vorurteilslos“! Vor ihrem Mikrophon werden alle gleich. Das Fernsehen als Zufluchstätte aller von der angeblich repressiven Normalität Ausgegrenzten. Die Moderatorin nimmt sich dieser modernen Aussätzigen an. Man soll nicht lachen! Es gibt nichts Schrecklicheres – hat Nietzsche einmal bemerkt – als die Herrschaft der Zukurzgekommenen!

Die Kamera schwenkt ins Publikum. Die Horror–Parade derer, denen man einst eine psychiatrische oder psychologische Beratung empfohlen hätte, geht weiter: „Horst! Was Nico nicht kann, er kann ja seine Pampers am hellichten Tag nicht unter ´ne Jeans stecken. Da würde man komisch gucken. Sie haben ´ne Leidenschaft, die können Sie aber unter der normalen Kleidung verstauen? Was lieben Sie?“ Die beiden zweifellos stark emanzipierten Damen rechts und links neben Horst wissen, daß sie mit ihm durch Deutschlands Wohnzimmer flackern und verziehen – man möchte ja nicht als mit einem „Vorurteil“ belastet erscheinen – keine Miene, als der befangene Horst etwas abgehackt erklärt: „Also, ich habe direkt Damenwäsche, BH, Slip, Body, Straps, Strumpfhosen, also alles, was in Richtung »Seide mit Spitze« geht.“ Eine eingeblendete Schrift belehrt den Zuschauer: „Horst, Wäsche–Fetischist“ Damit der staunende Zuschauer genau informiert ist, öffnet Horst das Hemd und zeigt der heranzoomenden Kamera den rot–schwarzen BH über seinem mageren Oberkörper.

Während dieser Vorführung sitzt links neben Schreinemacker eine unbewegliche, von Kopf bis Fuß in Leder, Gummi und Plastik gehüllte Gestalt – Mann oder Frau? –, deren Kopf ebenfalls total mit dem gleichen Material verschalt ist und die an einen antiken Gladiator aus dem Circus Maximus erinnert. Eine weitere Lebensform! Neben dieser schweigenden Figur, die nur noch aus Sehschlitzen die Welt betrachtet, sitzt eine etwas weniger, nichts desto trotz bizarr in schwarzes Leder und schwarzen Plastik gehüllte Dame, die einen BH aus grünem Gummi über dem schwarzen Leder trägt. Schwarze Gummihandschuhe gehen ihr bis über die Ellenbogen, eine schwarze Halbmaske verdeckt das Gesicht. Der Zuschauer bekommt auch über sie erklärt, daß sie „kein Monster“ sei. Seht her, soll auch der letzte heute lernen, das alles gibt es! Normale Sexualität? Pfui wie konsevativ! Das ist auch nur ein Mensch! – Wer hat je das Gegenteil behauptet?

Die Moderatorin hat schließlich auch ihr Coming–Out: Die Sendung „War auch für mich jetzt nicht ganz so einfach“. Aber sie hat stolz vorgeführt, was wohl so schnell keiner vor die Kamera bekommt. Wie Jesus die Sünder um sich, so versammelt Margarete Schreinemackers die kleinen und kleinsten Perversen um sich, führt sie vor. Und das staunende Publikum lernt, wovor man alles keine Angst zu haben braucht. Die Schreinemacker weiß, daß sie eigentlich vieles lächerlich findet. Dies zu unterdrücken ist „nicht ganz so einfach“, wie sie zugeben muß; „nicht weil ich jetzt ein Vorurteil oder so etwas habe, aber man hat ja nicht jeden Tag so damit zu tun. Und ich finde das klasse, daß Sie alle hier gesessen haben, darüber geredet haben.“ Nur ´mal darüber reden, ist die Kunst, ist das Moderne, Tolerante. Der psychologische Small–talk auf Kosten des Betroffenen vor den lüsternen Augen eines Millionenpublikums – das Niveau kann nicht niedrig genug sein. Margarete Schreinemacker fährt fort, „es macht ja auch verständlich, daß, weil jemand eine Leidenschaft ausübt, er deswegen kein Monster sein muß.“ Das ist die Moral der publizistischen Antidismkriminierungsfront: Jeder hat seine „Wirklichkeit“, wer will schon sagen, was richtig und was falsch ist, wir reden daher über alles, denn alles kommt vor, und weil es vorkommt, muss man darüber reden. Komme nur keiner und finde etwas gut oder schlecht, fort mit jenen, die ein Urteil abzugeben haben, die eine Meinung haben. Die „polarisieren“ nur und stören das Reden und Schwafeln über jeden Dreck.

Nur ein Tabu kennt dieser herrschaftsfrei Diskurs, der alle Tabus brechen will und keine verbindlichen Werte anerkennen will: Habe kein Urteil! Glaube nicht, etwas werten zu dürfen! Alles Urteil ist schon ein Vorurteil. Sich selbst setzt man absolut. Man weiß, wer nicht mitreden darf: Der, der ein Urteil abzugeben hat, der etwas weiß.

Und über all dem Abbauen von angeblichen Vorurteilen, dem Einreißen angeblich schädlicher Tabus, vergißt man den Perversen, dem bitterstes Unrecht geschieht: Wie ein exotisches Tier dem staunenden Europäer des Neunzehnten Jahrhunderts wird er dem Fernsehpublikum des Zwanzigsten vorgeführt: Seht das gibt es auch, aber lacht nicht! Das ist „tödliches Mitleid“!

Der arme Mensch, dem man dringend helfen müßte, von seiner Einsamkeit loszukommen, worauf er seine Perversion aufgeben würde, wird stattdessen vorgeführt, als wäre er „von Natur aus“ so. Menschenzoo im Studio! Sein gewordenes Leiden wird von fachfremden Pseudointellektuellen als unheilbar festgeschrieben. Es ist wie in jener Zeit, da man das „Irresein“ als unabänderliches oder „vererbtes“ Übel ansah. Der schüchterne Horst, der unter seinem Hemd einen BH trug, kennt seine Einsamkeit als Ursache: „Ich hab da früher schon von meiner Mutter mal so Sachen probiert.“ Sagt er. „Das hat sich dann nach meiner Scheidung weiterentwickelt, und seit ich alleine lebe, ist das für mich eine Befriedigung. Und wenn ich die Sachen tragen kann, ist das tagsüber ein entsprechender (!) Reiz.“ Würde man ihm dazu verhelfen, eine tiefe mitmenschliche Partnerschaft mit einer Frau zu leben, nicht mehr einsam zu leben, er würde das schale Surrogat – sich durch Damenwäsche stimulieren zu müssen – nicht mehr brauchen, weil echte Mitmenschlichkeit seine Befriedigung ware. Der sensationsgeile Journalist aber missbraucht das Leiden dieses Armen und stellt als „Lebensform“ unter vielen dar, was in Wirklichkeit ein schaler Ersatz für nicht gehabte Liebe ist.

Aber sagen darf man das heute schon gar nicht mehr laut. Wer´s wagt kommt schnell in den Geruch des autoritären Fundamentalisten. Begründungspflichtig ist der Normale geworden. Er, der Heterosexuelle muss sich vor dem Zeitgeisttribunal verantworten, warum ausgerechnet er sich für normal hält. Streng wird moralinsauer gefordert, er solle ja nicht denken, der Mensch sei ein heterosexuelles Wesen. Pfui, welch Hochmut im wissenschaftlichen Gewande, schreit der Zeitgeist. Alle anderen, die in Windeln pinkeln, als Erwachsene am Schnuller saugen, sich lustvoll von Gleichgeschlechtlichen den Hintern abwischen und pudern lassen, Frauenkleider tragen, nur in Gummi, Lack und Leder Lebensfreude erleben – sie alle sind fraglos legitimiert. Keiner fragt danach, warum ausgerechnet ihre exotische Lebensführung normal sein soll. Sie existiert, also ist das bemerkenswert. Nicht so schnell urteilen, bitteschön!

Es geht der Sendung, und das macht ihre Gefährlichkeit aus, gegen jede Form von Normalität. Die Einheit von Leib, Seele, Geist, die in personale Beziehung tretende Person, was den Menschen zum Menschen macht, das ist zerstört. Der solchermassen seiner Personenhaftigkeit beraubte Mensch hat keine unveräusserliche Würde mehr! Von dem vernunftbegabten Wesen, das in Freiheit Verantwortung für die Natur und den Mitmenschen übernimmt und sich bescheiden nicht besser weiss als der Nachbar, ist am Ende der Sendung noch eine polymorph–perverses Amöbe übrig, ein von Reizleitungen durchzogener Haufen Fleisch und Knochen, der sich gegen alles wehrt, was seiner Lust gefährlich sein könnte. Gesungen wird das Hohelied auf die spontane, ungehemmte, keine Grenzen kennende Bedürfnisbefriedigung. Keiner fragt mehr, ob die sogenannte „Leidenschaft“ des einen sein Glück oder sein Unglück ist.

Wehe dem, der es wagt von „Perversion“ zu reden! Gut ist jeder zur Lustbefriedigung umgedeuteter Nervenkitzel, den sich ein schwüler Geist ausdenken kann, und zwar allein, weil er denkbar ist. Der Mensch ist zur reinen Bedürfnisbefriedigungsmaschine verkommen. Glück hat nichts mehr mit Verantwortung, Gemeinwohl und Humanität zu tun. Glück ist reduziert auf die optimale Impulsleitung vom Stamm, Kleinhirn und Rückenmark in alle Körperteile. Pfui dem Vernünftigen, der so etwas pervers nennt. Er ist repressiv. Normal ist geworden, was einmal nicht normal war. Der Heterosexuelle wird zum Aussenseiter und muss sich für die einfache Naturtatsache verteidigen, dass der Mensch zweigeschlechtlich ist.
Alle Zitate aus: 10.2.1994 „Schreinemackers live“ in SAT1

 

Moritz Nestor: Ist der Mensch eine Amöbe?

Autor

Moritz Nestor, Psychologe

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