«Lernen sich helfen zu lassen» – Entwicklung einer einsamen Perfektionistin
2006 ∙ Moritz Nestor
Frau A., 60, Leiterin einer Putzkolonne in einem grossen Reinigungsunternehmen, wird am 11. September 2000 notfallmässig von der Hausärztin wegen akuter Suizidalität überwiesen, nachdem ihr, für sie überraschend, am 1. September 2000 ihrer Stelle wegen zu langer Arbeitsunfähigkeit aufgrund multipler Erkrankungen gekündigt worden ist. Am Tag nach der Kündigung ist sie psychisch dekompensiert und hat eine starke Depression entwickelt. Nach kurzer Erholung von der Dekompensation hat sie trotz Anraten der Ärztin, sich psychotherapeutisch helfen zu lassen, mit aller Anstrengung versucht, ohne professionelle Hilfe selbständig zu bleiben. Sie hat sich aus ihren näheren Beziehungen zurückgezogen, ihre Wohnung nur noch für das Allernötigste verlassen, gegenüber allen Aufgaben und gegenüber Menschen ängstlich und überfordert reagiert und das tägliche Leben immer mehr vernachlässigt. Die Hausärztin, bei der Frau A. schon längere Zeit wegen fortschreitendem Rheuma, hohem Blutdruck und Rückenbeschwerden sowie einem nach Operation sich verkomplizierenden Hallux in Behandlung ist und von der sie lange krankgeschrieben war, hat die depressive Symptomatik mit hohen Dosen Temesta unter Kontrolle zu bekommen versucht.
Gegenwärtige Situation
Familie und Sozialumgebung
Frau A. lebt seit der Scheidung von ihrem zweiten Mann vor 20 Jahren allein. Sie hat bis zur Kündigung ihrer Stelle gearbeitet. Die zwei älteren (Sohn, 40, Tochter, 39) ihrer drei erwachsenen Kinder aus erster Ehe haben seit Anfang der 80er Jahre jeden Kontakt zur Mutter abgebrochen. Ihr Jüngster, ihr abgöttisch verehrtes Lieblingskind, mit dem sie eine tiefe symbiotische und stark ambivalente Beziehung verbindet, ist selbst Inhaber einer mittelständischen Reinigungsfirma und wohnt in ihrer Nähe. Die Beziehung zu ihm verschlechtert sich um die Kündigung rapid bis zu fast völligem Abbruch, da der Sohn es ablehnt, dass seine Mutter therapeutische Hilfe braucht. Frau A. wohnt seit 20 Jahren ohne Partner allein im eigenen Haushalt. Alle drei bis vier Jahre etwa zieht sie um, weil sie es nicht mehr in den etablierten Beziehungen aushält.
Wirtschaftliche und berufliche Lage
Finanziell ist sie abgesichert: Seit dem 2. Juli 00 ist sie von der Hausärztin arbeitsunfähig geschrieben und bezieht Leistungen aus der Taggeldversicherung. Aufgrund der körperlichen Erkrankung und des psychischen Leidens, angesichts ihres fortgeschrittenen Alters und der Situation auf dem Arbeitsmarkt plant sie einen nahtlosen Übergang von der Taggeldversicherung in die AHV- und Pensionskassen-Leistungen, der dann auch gelingt, als sie mit 62 pensioniert wird.
Als eine arbeitsgewohnte und äusserst perfektionistisch-tüchtige Frau, die ihr Selbstwertgefühl an die Leistung gebunden hat, trägt sie schwer daran, dass sie ihren Lebensberufsweg mit einer Kündigung abschliessen muss. Sie leidet massiv darunter, von der Gesellschaft als krank verachtet und als wertlos und lebensunwert weggeworfen worden zu sein.
Familienanamnese und persönliche Anamnese
Frau A. wird kurz nach ihrer Geburt 1940 adoptiert. Ihre Adoptivmutter nimmt sie wie ein eigenes Kind auf. Die Mutter ist eine tiefgläubige, korrekte, pünktliche, genaue und strenge Erzieherin, die tadelt, schlägt und schimpft, um ihre einzige Tochter zum Paradekind zu erziehen. Frau A. wird ein angepasstes Kind, der „Sonnenschein“ der Familie, das glänzen und Erfolg haben will. Sie ist der Liebling des Vaters, den sie als milder erlebt und den sie gegen die immer mehr gehasste Mutter ausspielen kann, von der sie sich abgelehnt und nicht geliebt fühlt. Als Frau A. 18 ist, erfährt sie von der Adoption und nimmt es ihrer Mutter übel, davon nicht früher erfahren zu haben. Bis zu Frau As Erkrankung 2000 nimmt sie ihrer Mutter übel, streng erzogen und nicht geliebt worden zu sein.
Die junge Frau A., eine gute Schülerin, macht eine kaufmännische Ausbildung, nimmt parallel Gesangsunterricht, singt früh in Operetten auf Volksbühnen und träumt von einer Karriere als Gesangsstar. Sie lernt ihren ersten Man kennen, einen Alkoholiker, von dem ihr die Eltern massiv abraten. Gerade zum Trotz heiratet sie ihn 1960 mit 20, bereits schwanger, und redet sich ein, dass sie den Eltern beweisen werde, dass sie ihn vom Alkohol wegbekommen werde.
Sie will viele Kinder. 1960 wird ihr erster Sohn, 1961 ihre Tochter geboren, 1962 wieder ein Sohn, der aber mit vier Jahren an einem Treppenabsturz stirbt, was sie sich zeitlebens zum Vorwurf macht, da sie glaubt, sie hätte besser aufpassen können. 1963 wird ihr dritter Sohn geboren, den sie unter anderem wegen der Schuldgefühle aufgrund des vorangegangenen Todesfalles besonders an sich bindet und an ihm gutmachen will, was sie zuvor geglaubt hat, versäumt zu haben. Sie arbeitet Teilzeit, macht den Haushalt perfekt, versucht den Mann zu heilen und verausgabt sich so völlig. Sie isst immer weniger, arbeitet immer mehr und nimmt immer mehr ab, bis sie schliesslich körperlich dekompensiert. Danach lässt sie sich unterbinden, um weiteren Kindersegen, auf den der Mann drängt, zu stoppen. Die Ehe geht immer schlechter, man streitet immer häufiger, der Alkohol zerrüttet immer mehr. Sie versucht, den Mann zu „heilen“ und seine ständige Kritik, sein Nörgeln durch Angepasstheit und Steigerung der Tüchtigkeit zu kompensieren und merkt nicht, dass sie Teil seines Suchtverhaltens und abhängig von ihm geworden ist.
Schliesslich lernt sie einen anderen Mann kennen, in den sie sich verliebt, und kann dank ihm aus der Ehe ausbrechen. 29jährig zieht sie 1969 mit den Kindern zum Geliebten. Einige Zeit später wird die erste Ehe geschieden. Wenig später heiratet sie erneut.
Ihr neuer Mann führt ein gut gehendes Restaurant. Sie muss plötzlich nicht mehr arbeiten, sieht ihren Traum erfüllt, gross herauszukommen, da sie plötzlich sehr viel Geld hat, ein teures Auto fahren und teure Kleider tragen kann. Sie sonnt sich im Wohlstand, fühlt sich stark und anderen überlegen.
Bald aber muss sie entdecken, dass ihr Mann ständig mit anderen Frauen sexuelle Verhältnisse beginnt. Sie stellt ihn, er steht dazu und schlägt ihr Gruppensex mit anderen Paaren vor. Sie ekelt sich zunächst davor, will aber ihn, das viele Geld und den Triumph des Oben-Seins nicht aufgeben. Sie kann nicht nein zu seinem Drängen sagen und macht schliesslich bei den von ihm organisierten Gruppensexabenden mit, aber nur, nachdem sie sich jeweils betrunken hat. So rutscht sie allmählich in eine Alkoholabhängigkeit hinein. Schliesslich beginnt der Mann mit sexuellen Übergriffen auf ihre Tochter. Sie lässt sich nach einigen schwachen Protesten, willenlos geworden, auf sexuelle Praktiken mit ihm und ihren Kindern ein. Ihre Tochter erstattet irgendwann Anzeige, es kommt zur Gerichtsverhandlung und zur Verurteilung. Nach dem Gefängnisaufenthalt beginnt sie langsam, sich innerlich vom Mann zu distanzieren. Die beiden älteren Kinder gehen aus dem Haus und distanzieren sich von der Mutter, während sie zunächst zusammen mit dem Jüngsten noch bleibt und ständig probiert zu erreichen, dass sich der Mann „normalisiert“ und sich ihr zuwendet. Eines Abends 1980 zieht sie einen inneren Schlussstrich, weil sie erkennt, dass es sinnlos und unwürdig geworden ist, wie sie sich bei ihm bemüht. Mit ihrem Sohn verlässt sie den Mann, für diesen völlig überraschend.
In einer kleinen Wohnung beginnt sie zusammen mit ihrem geliebten Jüngsten ein völlig neues Leben. Sie hört mit dem Tag des Auszugs mit dem Alkohol auf, besorgt sich eine Arbeit und arbeitet hart und fleissig, bekommt schliesslich eine eigen Equipe in einem Reinigungsunternehmen. Mit ihrer Vergangenheit hat sie völlig abgeschlossen. Innerlich schlummert ein tiefes Gefühl von Schande gegenüber sich und allen Menschen wegen ihre vergangenen Lebensführung und ihrer Taten.
Ihr jüngster Sohn ist nun ihr Ein und Alles. Für ihn tat sie schon immer alles, las und liest ihm jeden Wunsch von den Lippen ab. Er lohnt es ihr nun übel, beginnt zu klauen, wird kriminell, landet im Gefängnis. Sie steht zu ihm und hilft ihm danach wieder auf die Beine zu kommen. Er lernt mit ihrer Hilfe spät doch noch einen Beruf.
Die Bestätigung in der Arbeit wird jetzt für Frau A. zur Kraftquelle, woran sie sich stärkt und womit sie in ihrem neuen Leben ein seelisches Gleichgewicht aufbauen kann. Sie blendet Männerbekanntschaften völlig aus und ist auch sonst in Beziehungen und Freundschaften distanziert und verschlossen. Äusserlich wird sie hart, innerlich sehnt sie sich nach Zuwendung und Liebe, nach tieferen Gesprächen, danach verstanden zu werden und Verständnis zeigen zu können, Gefühle haben zu dürfen. Dieser Lebensentwurf sollte bis 2000 gelingen.
Jetziges Leiden
Exogener Faktor der psychischen Dekompensation 2000 ist die Kündigung. Sie bedeutet für Frau A. den Zusammenbruch ihres inneren Gleichgewichts und ihrer Selbstwertregulation. Sie fühlt sich zutiefst wertlos, weil krank und arbeitslos. Dass die Kündigung wegen Krankheit erfolgte, ist für sie die Bestätigung, dass sie nur als tüchtige Arbeitskraft wertvoll ist, aber nicht als Mensch. Sie glaubt, man habe ihr gekündigt, weil sie „faul“ sei und vermutet immer wieder, sie sei gar nicht krank, sondern simuliere nur.
Ihr geliebter jüngster Sohn, ihr einzige stetige Beziehung, ärgert sich über die Mutter, dass sie „kränkelt“, macht ihr Vorwürfe, sie solle sich nicht „gehen lassen“. Sie brauche keine Therapie, sie sei eine starke Frau. Seine Distanziertheit zieht ihr zusätzlich den Boden unter den Füssen weg. Sie will ihm erklären, dass sie wirklich krank sei. Er bleibt stur, lehnt jedes Gespräch ab. Zu allem Überfluss erfährt die Schwiegertochter später, die ebenfalls Alkohol trinkt, durch den Sohn von den früheren Sexgeschichten und dem Gefängnis der Schwiegermutter und verbietet Frau A. den Umgang mit den beiden Enkeln, die Frau A. sehr liebt. Nach der Dekompensation 2000 bricht also zusätzlich ihre wichtige Beziehung zu ihrem Jüngsten mit den Enkeln, die für Frau A. die Hoffnung waren, nachträglich eine gute (Gross)Mutter sein zu können, weg. Eine Beziehung also, die ihr eigentlich hätte helfen könne, über diese schwere Zeit hinwegzukommen.
Psychopathologischer Befund im Erstgespräch
Im Erstgespräch zeigt die Patientin das typische Zustandsbild einer schweren depressiven Episode mit Selbstwertverlust, Schuld- und Wertlosigkeitsgefühlen, negativen und pessimistischen Zukunftserwartungen, Schlafstörungen, Appetitverlust, erhöhter Ermüdbarkeit.
Sie ist in ihrem Bewusstsein allseitig orientiert und wach, ohne Anzeichen einer Bewusstseinsverminderung, -einstrübung, -einengung oder -verschiebung. Sie klagt über leichte Konzentrations- und Aufmerksamkeitsstörungen. Auffassung, Merkfähigkeit und Gedächtnis sind regelrecht. Es liegen keine Konfabulationen oder Paramnesien vor. Frau As Denken ist logisch und kohärent, erscheint aber manchmal leicht verlangsamt, da sie um die inneren Konflikte kreist. Eine mittelgradige bis starke Gedankeneinengung auf die Kündigung, die vermeintliche Wertlosigkeit und ihre Krankheit sowie bezüglich ihrer beiden Ehekatastrophen ist deutlich, ebenso ein damit verbundenes starkes Grübeln. Andere formale Denkstörungen werden nicht festgestellt. Ihre Grundstimmung ist etwas misstrauisch-ängstlich, durchsetzt von leicht hypochondrischen Zügen. Phobien, Zwangsgedanken, -impulse, und -handlungen bestehen keine. Es fehlen alle Anzeichen eines Wahns oder einer Sinnestäuschungen. Ebenso fehlt jeder Anhaltspunkt für eine Ich-Störung. Ihr maskenhaftes Gesicht zeigt ihre freudlose Grundstimmung. Sie erscheint antriebs- und affektarm, wenig introspektiv und innerlich äusserst angespannt.
Die zuvor bei der Hausärztin geäusserten Suizidabsichten werden jetzt glaubhaft verneint.
Es werden für die erste Phase wöchentliche psychotherapeutische Sitzungen vereinbart. Die Medikamentierung bleibt, wie sie von der Hausärztin begonnen worden ist, und wird dort zusammen mit anderen Medikamenten überwacht.
Verlauf
Nach wenigen Wochen ist Frau A., die im Erstgespräch versteinert und hoffnungslos wirkte, aufgeblüht. Es stellt sich ein guter Rapport ein. Sie beginnt eine Annäherung an die verschlossene Lebensgeschichte und die hinter der Dekompensation im Jahre 2000 stehenden unbewussten inneren Selbstwert-Konflikte und Sicherungsmechanismen.
Im Verlaufe dessen beginnt sie sich ihrer Tochter zu nähern, und eine Versöhnung nach all den Jahren beginnt, was sie nie zu hoffen gewagt hätte und was ihr Selbstwertgefühl stärkt. Sie reduziert mit gutem Erfolg die Medikation.
Nach einem halben Jahr hat sich die depressive Symptomatik gelegt. Sie beginnt, in einer Selbsthilfegruppe für depressive Menschen mitzuarbeiten, und wird dort zur Integrationsfigur, gründet selbst neue Selbsthilfegruppen und findet einen neuen Lebensmittelpunkt.
Wir reduzieren die Gesprächsfrequenz auf Konsultationen alle zwei bis drei Wochen, nach einem Jahr auf ein Gespräch pro Monat.
Nach eineinhalb Jahren verliebt sich Frau A. in mich, wobei ihr von vornherein völlig klar ist, dass sie sich davon distanzieren muss und will. Die Komplikation kann dadurch schnell gelöst werden und kann bei ihr zu einem inneren Wachstum führen, da sie geglaubt hatte, sie würde nie mehr derartige Gefühle erleben können. Hatte sie doch alles innerlich abgekapselt und verleugnet, was mit Lieben und Geliebtwerden zu tun hatte, als sie sich von ihrem zweiten Mann gelöst hatte.
Nun wird sie sicher, dass sie wie andere Menschen auch leben kann, lernt zum ersten Mal seit dem letzten Ehedesaster Männer kennen, hat mehrere kleine Abenteuer und verliebt sich schliesslich in einen Mann, mit dem sie eine längere Beziehung eingeht. Er ist verheiratet, will von seiner Frau nicht weg, ist aber nicht glücklich zu Hause und findet bei Frau A. Kompensation dafür. Sie liebt zum ersten Mal wieder einen Mann. Dass er nicht frei ist, stört sie nicht, da sie ihre Freiheitsbedürfnis aus den letzten 20 Jahren nicht aufgeben will.
Frau A. beendet schliesslich für längere Zeit die Gespräche mit mir. Als die Schwiegertochter gegen sie intrigiert und den Enkelkindern jeden Besucht bei der Grossmutter untersagt, erlebt Frau A. einen Rückfall, der mehrere Gespräche im Sinne einer Krisenintervention nötig machen. Danach kann sie wieder längere Phasen ohne therapeutische Hilfe leben.
Der Konflikt mit dem jüngsten Sohn lässt sich bis heute nicht lösen und ist in grösser werdenden Abständen – heute etwas alle 4-5 Monate ‑ immer wieder Grund für kurze, depressive Schwankungen, die sie in ein bis zwei Gesprächen überwinden kann.
Gesamtbeurteilung
Ich behandelte Frau A. mit einer Kombination aus einerseits stützender Gesprächstherapie, verbunden (vor allem wegen der zu Beginn vorherrschenden Angstsymptomatik) mit kognitiv verhaltenstherapeutischen Sequenzen und andererseits mittels analytischer tiefenpsychologischer Psychotherapie.
Frau A. war eine ausgesprochen tüchtige, korrekte Mitarbeiterin. Als exogener Auslöser der Depression imponierte die Kündigung wegen zu langer Arbeitsunfähigkeit aufgrund ihrer längeren Erkrankung. Sie dürfte auch mitbedingt sein durch die starke Veränderung der Arbeitswelt seit Beginn der Achtzigerjahre, in deren Folge vermehrt jüngere Arbeitskräfte gegenüber älteren Arbeitsnehmern über 50-55 Jahren bevorzugt bzw. ältere oder kranke wie Frau A. wenige Jahre vor der Pensionierung entlassen wurden.
Bereits vor der Kündigung hatte Frau A. einen Einbruch im Selbstwertgefühl erlebt: Sie hatte die Tatsache, krank und lange arbeitunfähig zu sein, älter und gebrechlicher zu werden, stark abgewehrt und als Verlust ihres zuvor durch Höchstleistung und Perfektionismus aufrechterhaltenen Selbstwertes erlebt. Aus mangelnder „emotionaler Intelligenz“ heraus erlebte sie Arbeitunfähigkeit und Kranksein als Beweis ihres Lebensunwerts, was eine unheilvolle Negativspirale in Gang unterhielt: Um wieder arbeitsfähig zu werden, überging sie ihre Krankheiten, schonte sich nicht, was sich verlängernd bis verhindernd auf den Heilungsprozess auswirkte. Dieses wiederum stärkte in Frau A. die emotionale „Überzeugung“, sie sei zu schwach und zu wenig tüchtig. Sie strengte sich um so mehr an und versuchte „gegen“ ihre Krankheitssymptome rigide willensmässig vorzugehen, was diese aber nur weiter verschlechterte und sie wiederum nur noch mehr zur Überzeugung gelangen liess, dass sie eben lebensunwert sei und unfähig, sich (wie andere, die ja Arbeit hatten und damit in ihren Augen Erfolg) wie ein tüchtiger Mensch zusammenzunehmen.
Eine weitere negative Verstärkung ihrer psychischen Vulnerabilität bildete die Tatsache, dass die Beziehung zu ihrem Lieblingssohn, ihrer engsten und wichtigsten Bezugsperson seit 20 Jahren, anlässlich Erkrankung und Kündigung durch den Umstand zerbrach, dass der Sohn – unbelehrbar durch alle Menschen – die Kündigung und die schwere Depression seiner Mutter darauf zurückführte, dass diese sich nicht genügend zusammengerissen habe, „auf krank gemacht“ habe, weswegen man ihr natürlich habe müssen. Dass sie sich in psychotherapeutische Behandlung begeben hatte, war für ihn nur noch ein weiterer „Beweis“, dass sie „schwächelte“. Sie solle sich zusammenreissen, dann werde sie wieder gesund. Der Sohn wurde ebenso wenig wie seine Mutter emotional mit der Tatsache fertig, dass seine Mutter nicht mehr omnipotent stark war, sondern älter und schwächer wurde. Dieser Vorgang wiederum nährte die emotionale Isolierung in Frau A.
Frau As psychische Vulnerabilität, die zusammen mit dem exogenen Faktor Kündigung zur Dekompensation führte, kristallisierte sich um einen Kern herum, gebildet aus einem unbewussten lebensgeschichtlichen alten Konflikt im Umkreis von Leistung und Selbstwert: Als Einzelkind prägte die Entwicklung in Kindheit und Jugend die Erfahrung, dass nur das angepasste, brave, tüchtige Kind, das keine Probleme zu haben schien, in den Augen der ersten Beziehungspersonen wertvoll erschien und alles Abweichen davon kritisiert und mit Liebesentzug und Strafen sanktioniert wurde. Auf dem Boden einer tiefen emotionalen Selbstwertunsicherheit entwickelte sie rigide Abwehr- und Sicherungmechanismen, indem sie unbewusst zeitlebens versuchte, Wert zu erlangen durch Tüchtigkeit, hohem Ehrgeiz, Leistung, Perfektion, Geld, gesellschaftliche Geltung und Dominanz einerseits und andererseits durch masochistische Unterwürfigkeit gegenüber Männern, was bis ins Gefängnis führte.
Ich habe im Verlauf der Therapie immer wieder gestaunt, wie Frau A. trotz ihrer gescheiterten Ehen und aller damit verbundenen Rückschläge, trotz all ihrer emotionalen Niederlagen, vor allem trotz des Verlustes ihrer geliebten Kinder und jeglicher Beziehung zu Männern, nicht emotional „verhungerte“, sondern immer wieder auf die Beine kam und sich mit bewundernswerter Kraft im wahrsten Sinne des Wortes durchschlug.
Manchmal sehen wir uns heute noch, und es ist eine Freude, wie realistisch und konsequent sie heute mit ihren Problemen umgehen kann, vor allem, dass sie sich im Laufe der Therapie gelernt hat, Hilfe in Anspruch zu nehmen, ohne sich deswegen zu verachten, da sie verstanden hat, dass ihr Selbstwert nicht von Leistung und Dominanz abhängt, sondern von ausgeglichenen emotionalen Beziehungen. Heute kann sie dadurch schnell leichte depressive Verstimmungen, die sich im Rahmen des Normalen bewegen, mit immer kürzerer therapeutischer Hilfe lösen, was wiederum weiter stärkend auf ihr Selbstwertgefühl wirkt.