Wenn wir uns versöhnen …
14. Mai 2006 ∙ Moritz Nestor
Wir leben in einer Zeit, die sich und ihren Kindern das Hassen lehrt, statt die Hoffnung und die Fähigkeit, sich mit dem Nächsten zu befreunden. Ehe noch unsere Kinder zur Schule gehen, haben sie oft schon Hunderte von blutigen Morden und brutalen Gemeinheiten am Bildschirm erlebt und die Welt als eine böse kennengelernt, in der man nur durch gnadenlosen Kampf aller gegen alle und Gemeinheit überleben kann. Ich lerne in meiner Praxis regelmässig Schülerinnen und Schüler kennen, die nicht mehr richtig lernen können, weil sie mehr Zeit vor dem Fernseher verbringen als in der Schule und hinter den Hausaufgaben. Und ich werde in diesem Zusammenhang jenes Bild dreier blutjunger amerikanischer Soldaten nicht vergessen, die irgendwo im zerbombten Bagdad in einer Garage vor einem Fernseher sich während einer Kampfpause Gewaltvideos „reinziehen“, auf der Flimmerkiste stehen die Hüllen von Ramboo I und II. Ihre «echten» Waffen lehnen an der Wand. Wir erziehen unsere Kinder zum Töten. Warum?
Es sind zu viele Psychologen im vergangenen Jahrhundert, dem totalitären, abseits gestanden oder haben sich auf die Seite der Macht, statt auf die Seite der Menschlichkeit geschlagen – im vorauseilenden Gehorsam ‑ auch und vor allem, als es noch ungefährlich war, etwas zu sagen. Diese Fehler haben dem grossen Töten geholfen statt dem Lebenserhalt. Aus der sicheren Schweiz heraus verkündete Carl Gustav Jung nach 1933, dass es nun eine minderwertige jüdische und eine höherwertige arische Psychologie gebe, und dass wissenschaftliches Arbeiten für den Psychologen zuerst einmal heisse, „Mein Kampf“ des „grossen Magiers“ Hitler studiert zu haben. Undenkbar, was einer der einflussreichsten Köpfe der internationalen Psychologen-Szene wie Jung hätte ausrichten können, wenn er in jenem berüchtigten Interview in den USA Hitler nicht als „Magier“ in der Nachfolge des germanischen Gottes Wotan gefeiert, sondern ihn einen menschenverachtenden Verbrecher genannt hätte. Es waren gravierende Fehler im Menschenbild Jungs, die für seine Bewunderung Hitlers verantwortlich waren. Die aber auch dafür verantwortlich waren, dass er 1945 für die amerikanischen Eroberer gut genug war, den besiegten Deutschen ein „Wotan“-Gen anzudichten, wegen dessen man sich überlegen sollte, ob man sie nicht alle auszurotten müsse, zumindest kastrieren, wie Roosevelt forderte, damit sie der Welt keinen Schaden mehr zufügen könnten. Der gleiche Fehler im Menschenbild, mal dieser, mal jener Macht zu Diensten.
Wir müssen aus diesen historischen Fehlern lernen, und nichts entschuldigt uns, wenn wir es nicht tun. Denn wir kennen die Geschichte. Und historische Nichtswissen schützt uns vor Schaden nicht. Im Gegenteil. Wer als Psychologe nicht weiss, zu was Psychologen an der Macht fähig waren und sind, der muss sich die Frage gefallen lassen, warum er die allen zugänglichen Quellen nicht gelesen hat. Der Intellektuelle, der studiert hat, kann sich nicht entschuldigen, er habe nicht gewusst. Er hat gelernt, den Dingen auf den Grund zu gehen.
Die erste unserer ethischen Grundsätze muss daher sein, dem Dienst am Leben und Frieden verpflichtet zu sein – und wenn die Macht auch noch so lockt. Psychologie muss dem Menschen, nicht der Macht dienen, sonst hat sie den Namen nicht verdient.
Wir können dem Locken der Macht, dem Schmeicheln des guten Salärs, dem Glanz der einflussreichen Position, dem Reiz des Rechthabens, dem angestrengten Strebens nach Oben-Sein, dem Flüstern des Viel-Besitzen-Wollens nur widerstehen, wenn unser eigenes, ganz ureigenes Menschenbild «sauber» ist. Wir müssen in Frieden leben können und müssen die Menschenrechte leben können. Nicht nur als moralische Forderungen vor uns hertragen. Dass wir das den Menschen als Psychologen nach 1945 nicht gelehrt haben, dürfte unsere grösste historische Schuld sein. Niemals wären im Namen der Menschenrechte Bomben gefallen, hätten wir gewirkt,
Und das können wir nur, wenn wir konsequent, offen, ehrlich gegen uns und andere zu Ende gedacht haben, wo wir unsere geheimsten Fehler haben, unsere geliebten Schwächen und unseren geliebten Lebensstil, den wir erst loslassen, wenn wir wirklich ernst machen damit, den Menschen lieben lernen zu wollen, statt die Macht, das Haben, das Oben und das Gelten zu bewundern.
Der Psychologe muss eine Antwort geben können auf die Frage, „wie man mit Konflikten in menschlichen Beziehungen so umgehen kann, dass immer auch wieder nahe, vertrauensvolle Beziehungen entstehen können – Beziehungen, in denen man einander fördert, damit ein gutes Lebensgefühl möglich wir.“ – Denn diese Frage betrifft seinen «Fachgegenstand», den Menschen und sein Seelenleben.