Aspekte der helfenden Beziehung im Lichte einer personalen Psychologie

4. September 2016 Moritz Nestor

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In jedem helfenden Beruf muss zwischen Helfer und Ratsuchendem eine gewisse Vertrauensbeziehung entstehen. Sie ist conditio sine qua non dafür, dass der Ratsuchende sich öffnet und gerne mitarbeitet. Das hat ganz grundsätzlich damit zu tun, dass der Hilfesuchende ein Mensch ist, „frei und gleich an Würde und Rechten geboren“, der ein feines Gefühl für würdevolle Behandlung hat. Gerade aufgrund von Leiden geschwächte Menschen sind empfindlicher als sonst und fühlen sehr genau, ob Helfer sie schätzen, verstehen und von gleich zu gleich respektieren. Es darf beim Helfer, wie Annemarie Buchholz-Kaiser 1985 in ihrem Vortrag am 16. Kongress der Internationalen Vereinigung für Individualpsychologie in Montreal sagte, „keine Spur von Überheblichkeit bestehen. … und es soll auch kein Belehrenwollen zum Ausdruck kommen, und zwar nicht nur als angewandte Technik, sondern als Haltung, die zutiefst gelebt werden muss.“ (Buchholz-Kaiser 1985)

Leider wird heute Auszubildenden in helfenden Berufen nur zu oft und häufig unreflektiert gelehrt, sie sollten gegenüber Hilfesuchenden „professionelle Distanz“ bewahren und sich „abgrenzen lernen“. Meist heisst das aber nichts anderes, als dass gerade der noch unerfahrene Helfer sich sehr angestrengt und gerade dadurch ichbezogen bleibt – statt einfühlsam zu sein gegenüber dem Hilfesuchenden, der gerade jetzt einen Menschen  braucht, der mit ihm mitdenkt und mitfühlt. Vertrauen verträgt keine Distanziertheit, auch wenn sie „professionell“ genannt wird. Beim Helfen ist kein „Sich-abgrenzen-können“ gefragt, sondern echte mitmenschliche Nähe von Ich zum Du. Gerade Berufsanfänger mit noch wenig Erfahrung klammern sich eher an die gelernten Theorien, die sie gerne anwenden möchten. Das Resultat ist dann nur zu oft ein Helfer, der überheblich und kalt wirkt – auch wenn er dies gar nicht beabsichtigt. Unter anderem deshalb forderte 2010 Susanne Kränzle in einem Artikel: „Professionelle Distanz? Streichen!“ Und sie plädiert stattdessen für „professionelle Nähe“ (Kränzle 2010).

Was heisst das für die Haltung des Helfers gegenüber dem Hilfesuchenden? Dazu haben die personalen Schulen in Tiefenpsychologie und Entwicklungspsychologie neue Wege gewiesen. In der Auffassung dieser Tradition versucht der Helfer das Bild des Ratsuchenden von sich und der Welt zu verstehen. Er versucht zu verstehen, wo und warum ein Mensch an welchen Anforderungen des Lebens gescheitert ist. Nach vorne orientiert, greift er die gesunden Anteile der Persönlichkeit auf und stärkt sie. Das Selbstwertgefühl kann sich erholen und der Hilfesuchende lernt, die Irrtümer zu korrigieren, die ihn scheitern liessen. Das braucht eine Vertrauensbeziehung zu einem Fachmann. Erstarkt die Beziehungsfähigkeit, kann das therapeutische Verfahren auf Gruppen ausgedehnt werden. Hier kann der Hilfesuchende seine Persönlichkeit konstruktiv einzubringen und für eine gemeinsame Sache zusammenzuarbeiten lernen. Jede gemeinsame sinnvolle Tätigkeit in einem sicheren Rahmen kann den Keim legen, dass ein seelisch gestrauchelter Mensch wieder einen Platz in der menschlichen Gemeinschaft findet, seine innere Einsamkeit schwindet und das Selbstwertgefühl wächst.

Der Helfer muss für diesen Prozess eine Grundfähigkeit erworben haben, die man «teilnehmende Beobachtung» nennt. Er muss sich in den Hilfesuchenden hineindenken (Perspektivwechsel), hineinfühlen (Empathie) und gleichzeitig die emotionalen Abläufe in der Beziehung zwischen sich und dem Hilfesuchern im Auge behalten können. Bis zu einem gewissen Grad muss er «mit-leidend» verstehen: Wäre ich der da, ich hätte auch so gehandelt. So kann er den Hilfesuchenden innerlich erfassen und «tragen» und ihn aus seinen seelischen Verstrickungen herausführen. Ohne eine solche personale Begegnung, die der Helfer mit freier Fühlungnahme und in Gleichwertigkeit gestalten muss, kann keine seelische Heilung beginnen.

Der Helfer muss dazu die Fähigkeit erwerben, die Persönlichkeit des anderen und sich selbst fortlaufend im Auge zu behalten. Das braucht fachliche Kenntnisse und Schulung der Persönlichkeit, die mit einer gewissen «Selbsterziehung» einhergeht in Form Supervision, Intervision, bzw. Lehranalyse. Die Wahrnehmung eines Helfers kann zum Beispiel durch den Affektausbruch eines seelisch Leidenden gestört werden, weil er den Affekt persönlich nimmt, Angst bekommt und nicht mehr angemessen reagieren kann. Gerade das kann den Affektausbruch des Leidenden steigern. Die Angstreaktion ist eine ‚parataktische Verzerrungen‘ (Sullivan), also ein störender emotionaler Anteil in der Wahrnehmung und im inneren Bild des Helfers von sich und anderen, der  aufgedeckt und aufgelöst werden muss, um die Fähigkeit zur «freien Fühlungnahme» wieder herzustellen.

Eine Helferin hat bei der Betreuung einer schwer depressiven Dame Angst, einen Fehler zu begehen, und begegnet ihre steif und «kantig». Am Mittagstisch sagt die Dame zu den anderen ängstlich: «Die ist eine Hexe.» Die Reserviertheit der Helferin fühlte sich für die Depressive bedrohlich an und störte die Beziehungsaufnahme.

Eine der häufigsten Gefährdungen kann ein Streben des Helfenden nach Sicherheit durch Wissen und sein Wunschdenken sein, ein Mensch werde sich automatisch ändern, wenn man ihn «nur richtig belehrt». Man will «richtig gut» helfen und den Hilfesuchenden nach erlerntem Schema explorieren, um «zu wissen, was zu tun ist». Gerade dadurch aber wird die Gefühlsbeziehung zu dem Hilfesuchenden unterbrochen, was dieser als Distanz empfindet. Der Hilfesuchende versteht die Ursache der emotionalen Distanz nicht, sondern deutet sie als Bedrohung der Sicherheit. Seelisch Angeschlagene mit einem durch innere Isolation hochempfindlichen Sensorium für seelische Distanz oder Beziehungsabbruch reagieren auf derartige Gegenübertragungen empfindlicher als seelisch mehr Gefestigte.

Diese emotionale Distanz des Helfenden gleicht jener zwischen Mutter und Säugling, wenn die Mutter ängstlich mit sich beschäftigt ist, ob sie alles recht macht und hoffentlich eine «gute Mutter» ist. Kinder solcher Mütter können starke Angst- und Wutgefühle bekommen oder sie auf andere Art herausfordern, um diese emotionale Distanz zu überwinden. Auch seelisch Behinderte können solche Gefühle oft gerade dort zeigen, wo der Helfer absorbiert, in eigene Probleme versunken ist.

Auch sollte man als Helfer nie die Haltung einnehmen, dass Behandlung und Heilung der Erfolg des Beraters seien. «Der Berater», sagte Adler einmal, «kann nur die Irrtümer zeigen, der Patient muss die Wahrheit lebendig machen.» (Adler 1933, 174) Es geht bei allem seelischen Leiden immer darum, die Verantwortung des Hilfesuchenden für seine eigene Entwicklung zu wecken und zu fördern. In dem Moment, wo ich mir im helfenden Gespräch Gedanken mache über meinen Erfolg, verfehle ich den Ratsuchenden. (Adler 1929, 89)

Gefährlich kann es werden, wenn man eigenes Wunschdenken nicht von Unwissen unterscheiden kann. Ein tüchtiger Helfer unterschätzt  z. B. einen Hilfesuchenden geistig und stellt ihm primitive Fragen. Der andere spürt die emotionale Kälte und Überheblichkeit und verweigert die Antwort. Der Helfer glaubt, der Hilfesuchende «verheimliche» etwas, ist über das «Schwindeln» empört und will den anderen zum Reden bringen – der Hilfeversuch scheitert an unbewussten Vorurteilen und Fehldeutungen. Oft sind derartige Reaktionen Ausdruck eines Sicherheits- und Anerkennungsstrebens aus der eigenen Lebensgeschichte des Helfers: Er will es anderen „recht machen“. Solche und andere emotionale Vorannahmen des Helfers sollten in der Supervision aufgedeckt und aufgelöst werden. Denn der Helfer trägt eine menschliche Verantwortung. Wenn er die Ursachen seelischer Schwierigkeiten eines anderen erkennen will, muss er eigenes abstossendes oder unbekanntes Verhalten, aber auch eigene destruktive Emotionen kontrollieren können und bearbeiten. Wir Menschen neigen zu Selbstbetrug. Die gerechte Empörung über eine schändliche Haltung eines seelisch Leidenden kann zum Beispiel unmerklich in moralische Kälte umschlagen. Der Helfer muss daher immer zu einem gewissen Grad geistig beweglich und wandlungsfähig bleiben und seine eigenen Gefühle und Ansichten durch fremde Einsichten, Erfahrungen und durch Forschungen anderer korrigieren können. Auf diese Art reift im Helfer eine Art ‚emotionaler Freiheit’ (Hess-Haeberli).

Würde der Helfer sich allerdings ständig kontrollieren, könnte er nicht spontan handeln. Wissen, Erfahrungen und Selbsterkenntnisse geben dem spontanen intuitiven Verstehen und Handeln allmählich eine richtigere menschliche Richtung und machen es zum sicheren «Instrument». Man ist nicht Helfer, man wird es in einem Prozess von Bildung und Selbstbildung.

Verstehen und Helfen gehen immer von der Gesamtpersönlichkeit und dem individuellen Lebensschicksal aus. Sonst bleibt gegenwärtiges Verhalten unverständlich. Der Helfer steht immer vor der Frage, ob er das Denken, Fühlen und Handeln des Hilfesuchenden adäquat erfassen kann: Er muss diagnostisch denken. Helfen ohne ein Konzept der menschlichen Persönlichkeit ist «like schooting in the dark» (Alexander). Das Fachwissen des Helfers vom Menschen, von seelischem Leid und von der Kunst des Helfens versagen, wenn das Bild des Helfers von der Natur des Menschen nicht von Mitmenschlichkeit und einem mitmenschlichen Grundwohlwollen anderen Menschen gegenüber erfüllt ist. Erst dies erfüllt das diagnostische Denken mit Leben.

Alfred Adlers Grundhaltung, die er in seinem Spätwerk «Sinn des Lebens» psychologisch und philosophisch darlegt, ist: Wer Menschen helfen will, muss sich bis zu einem gewissen Grade im andern wiedererkennen. Ohne die Unterschiede auszublenden – negative oder asoziale Haltungen, die man nie gutheisst, einrechnend – muss der Helfer dem Hilfesuchenden grundsätzlich mit einem Gefühl der Gleichwertigkeit begegnen. Und muss ihm «ungeteilte Aufmerksamkeit» entgegenbringen können.

Man kann einen seelisch Leidenden letztlich nicht wirklich verstehen, wenn man ihn nicht im Sinne eines Grundwohlwollens auch irgendwo ins Herz schliessen kann. Und wenn man nicht durch das Leiden dieses Unglücklichen hindurch, ja seinem Leiden zum Trotz, die einzigartige und wertvolle Person gerade auch dieses Menschen erfasst – mit ihren abgedrängten, verschütteten oder verkümmerten menschlichen Fähigkeiten, die auch er hat, und die er mit allen teilt, die zur Menschenfamilie gehören. Auch er, und gerade er, ist einer «von uns».

Fürsorge, Empathie, Menschenliebe und die tiefe Achtung vor der Person des seelisch Leidenden bleibt aber ohne Wissen um die Natur des Menschen, um die Ursachen seelischen Leides und um die helfende Beziehung immer ein Stück weit blind. Nächstenliebe und Fürsorge brauchen Wissen um die Menschennatur. Und was eine Wissenschaft ohne Herz für den Menschen ist, hat uns das Zwanzigste Jahrhundert bitter gelehrt.

Eine distanzierte, statistisch berechnende oder starr schematische Haltung wirkt auf Ratsuchende als kalter diagnostischer Blick ohne mitmenschliches Interesse, so dass sie sich verschliessen oder rebellieren. Auch wenn der Helfende, statt die Gesamtpersönlichkeit zu erfassen, die weit mehr umfasst als nur defizitäre neurotische Anteile, an den Defiziten des Ratsuchenden ansetzt und sie «weghaben» möchte, verliert er die Gesamtpersönlichkeit des Ratsuchenden.

Ab der ersten Begegnung zwischen Helfendem und Hilfesuchenden durchdringen sich diagnostisches Denken und Hilfeleistung wechselseitig. Aus den Abläufen der helfenden Beziehung gewinnt der Helfer diagnostische Hinweise. «Präzises Verstehen der therapeutischen Faktoren ist daher für die Verbesserung unserer therapeutischen Technik wie für die Zunahme unseres theoretischen Wissens wichtig.» (Alexander1950, 401) Der Helfer überdenkt die diagnostischen Hinweise laufend auf dem Hintergrund der sich weiter entwickelnden Beziehung. Gewissheit, ob die diagnostischen Erkenntnisse stimmen, entsteht in der helfenden Beziehung selbst. Sie ist zugleich der Ort der Hilfeleistung und der Ort, wo sich diagnostische Erkenntnisse prüfen lassen: Jedes Mal, wenn sich der Hilfesuchende zutiefst innerlich richtig erfasst fühlt, wirkt das als korrigierende emotionale Erfahrung und setzt Veränderungsprozesse im Seelenleben des Ratsuchenden in Gang.

Eine helfende Beziehung befindet sich immer in einem gewissen Fluss. Das diagnostische Denken darf darin nicht steckenbleiben und zum starren Schema werden. Sonst reduziert man den Ratsuchenden auf einen Zustand, den dieser bereits teilweise oder ganz überwunden hat. Rückzug oder Protest stellen sich dann ein, denn der Hilfesuchende fühlt sich zu recht unterschätzt.  Es trifft sein wachsendes Selbstwertgefühl, dass der andere ihn falsch sieht. Und weil ihn der Helfer nicht wirklich erfasst, kann er ihm zu wenig seelischen Halt geben. Der Helfer läuft zudem Gefahr, dass er sein eigenes Reduzieren des Ratsuchenden auf negative oder überwundene Anteile als Widerstand des Hilfesuchenden auslegt, den er zu «überwinden» versucht.

Der Heilungsprozess bewirkt laufend Neuerungen und Veränderungen im Seelenleben des Ratsuchenden – oft gerade dann, wenn man sie am wenigsten erwartet. Sie dürfen einem nicht entgehen und müssen sorgfältig mit dem von der Wirklichkeit «überholten» älteren diagnostischen Befunden, von denen der Helfer bis dahin ausging, abgeglichen werden. In diesem Sinne geht das diagnostische Denken in der Individualpsychologie immer von einer eigentlichen ‚Verlaufsdiagnose’ (Menninger) aus.

Grundsatz jeder Verlaufsdiagnose ist, dass der Helfer den gegenwärtigen Ausprägungsgrad des psychischen bzw. sozialen Schwächezustandes des Behinderten fortwährend beurteilt und danach einschätzt, wieviel geistige Mitarbeit man von ihm erwarten kann. «Der kranke und der rekonvaleszente Mensch», so Annemarie Buchholz-Kaiser, «kann und soll die Grenze seiner physischen Leistungsfähigkeit nicht überschreiten. Dasselbe gilt für den in seiner Beziehungsfähigkeit geschwächten Menschen, der auf Schonung Anrecht hat.» (Kaiser 1977, 52) Dem in seiner Beziehungsfähigkeit gefestigten Helfer «obliegt daher die strenge Pflicht», sagt Adler, den Behinderten nicht voreilig so zu betrachten, «als ob er etwas leisten könnte, was nur bei entwickeltem Gemeinschaftsgefühl zu leisten wäre, niemals aber beim Mangel desselben, weil der Unvorbereitete beim Zusammenstoss mit dem ein starkes Gemeinschaftsgefühl erfordernden Problem eine Schockwirkung erlebt, die unter Ausgestaltung eines Minderwertigkeitskomplexes zu Fehlschlägen aller Art Anlass gibt.» (Adler 1974, 73) Der Helfende sollte also grundsätzlich nicht an den Defiziten des Behinderten ansetzen, sondern dessen gesunde Anteile aufgreifen und wissend durch Fordern fördern. Das entspricht der Grundaufgabe der Mutter, «Wächterin» über die sich formende Beziehungsfähigkeit des Kindes zu sein. Der erfahrene Helfer erahnt auch bei schweren Formen von Beziehungsunfähigkeit, bei der sich eine therapeutische Defizitorientierung wegen des brüchigen Selbstwertgefühls und der grossen Angst besonders gefährlich auswirkt, gesunde Anteile, an denen er ansetzen kann.

Die Individualpsychologie besteht in der helfenden Beziehung auf der alten pädagogischen Formel «Fördern durch Fordern» als psychologisch-pädagogisches Prinzip der Hilfeleistung. Sie wird aber immer den gegenwärtigen Stand der seelischen Entwicklung eines Ratsuchenden in Rechnung stellen, und dort ansetzen, wo der Ratsuchende sich soweit entwickelt hat, dass mehr Forderungen an ihn gestellt werden können, ohne dass er dadurch über- oder unterfordert wird.

Heute trifft man nicht selten Helfende an, die sich aufgrund falscher Theorien dem Beziehungsgeschehen verweigern, weil sie meinen, eine helfende Beziehung mache abhängig. Sie treten professionell nach Lehrbuch auf und – verfehlen den anderen. Weit verbreitet ist auch das Missverständnis vom sogenannten Helfersyndrom, als litten hilfsbereite Menschen unter ihrem Wunsch zu helfen. Andere haben gelernt, sie müssten immer «echt» in der Beziehung sein und meinen, sie müssten dem Behinderten auch alle ihre negativen Gefühle ins Gesicht sagen, zum Beispiel wenn sie sich über ihn ärgern.

Solche und ähnliche Missverständnisse erfordern – gerade weil der Entwicklungsstand der eigenen Persönlichkeit des Helfers immer ins diagnostische Denken mit einfliesst – Fallbesprechungen und die Bereitschaft des Helfers, an sich zu arbeiten. Das wichtigste «Instrument» des Helfers ist seine Persönlichkeit. Daher darf er seine eigene Reife und seelische Gesundheit, seine eigene Beziehungsfähigkeit und seine Fähigkeit, sich in andere hineinversetzen zu können, nicht vernachlässigen.

Im Helfer wirken grundsätzlich keine anderen seelischen Grundkräfte als im Hilfesuchenden und in allen Menschen. Auch er will seine eigenen seelischen Fähigkeiten erweitern, in seiner Persönlichkeit reifen und dazulernen, um Unfähigkeiten und Schwächen weiter hinter sich zu lassen. Ist ihm das bewusst, dann verbindet ihn das zutiefst mit dem Hilfesuchenden. Denn er ist sich bewusst: Das Überwinden von Schwächen, Unfähigkeiten und Leiden ist unser gemeinsames Schicksal als Menschen. Du stehst dort, wo ich auch einmal stand oder hätte stehen können. Ich zeige dir wieder den Weg zurück zu den Menschen.

Jede helfende Beziehung stellt an den Helfer grosse menschliche Anforderungen. Niemand hat uns «einen Rosengarten versprochen». Aber sie kann den Helfer mit etwas Wunderbarem belohnen: Denn auch er reift an seiner Aufgabe zu helfen als Mensch in seiner eigenen Persönlichkeit und wächst daran seelisch. In diesem Sinne lernt er von jedem Hilfesuchenden. Es ist ein tiefes mitmenschliches Glück, für einen anderen Menschen von Bedeutung zu sein, zu erleben, dass dieser sich in seiner gebrochenen Persönlichkeit wieder aufrichtet, seelisch wächst, freier, beziehungsfähiger und selbständiger wird.

Die helfende Beziehung ist, so gesehen, für beide eine Chance zu mehr seelischem Wachsen und Reifen – für den seelisch Gesunden wie für den psychisch Behinderten. Sie «saugt» den Helfer nicht aus, wenn es ihm gelingt, eine echte Begegnung zu gestalten, und sie macht den Hilfesuchenden nicht «abhängig», im Gegenteil: Sie ist für beide Beteiligten ein inneres Wachsen und Reifen, denn es ist ein freies, gleichwertiges sich mit dem anderen vertrauensvoll Verbinden, die grösste Freiheit, die der Mensch erringen kann. Dieses Ethos des immer besseren Schutzes gerade der Schwachen, Kranken, Behinderten ist nach Adlers Auffassung nicht nur der Kern jeder mitmenschlichen Hilfeleistung, sondern auch jeder Zivilisation und Kultur.

 

Anmerkung

Der Vortrag wurde zum ersten Mal gehalten am 12. Juli 2016 auf dem Kongress „Psychology of a Person’s Attitude to Ability to Life: Problems and Prospects“ (10. bis 13. Juli 2016), veranstaltet vom „Institute of Humanities“ der „Vladimir State University named after Alexander and Nikolay Stoletov in Vladimir“ (Russische Föderation). Auf Wunsch von Alexander Bersejew, dem Direktor der Psychiatrischen Klinik von Vladimir, wurde am 13. Juli 2016 ein Fortbildungsseminar mit dem Kollegium der Klinik veranstaltet, auf dem der Vortrag erneut gehalten und diskutiert wurde. Am 20. Juli wurde er gehalten an den Sommergesprächen des „Instituts für Personale Humanwissenschaften und Gesellschaftsfragen“, Sirnach, Schweiz.

 

Literatur

Alexander, Franz G. (1950): Analyse der therapeutischen Faktoren in der Psychoanalytischen Behandlung; In: Psyche, 1950, Band 4, S. 401-416.

Adler, Alfred (1933): Sinn des Lebens. Frankfurt/Main: Fischer 1974.

Adler, Alfred (1912): Über den nervösen Charakter. Frankfurt/Main: Fischer1997.

Adler, Alfred (1912): Über den nervösen Charakter, Frankfurt/Main: Fischer 1972.

Adler, Alfred (1929): Neurosen.

Buchholz-Kaiser, Annemarie: Individualpsychologische Bildungsarbeit. Aspekte der analytischen Bearbeitung von Persönlichkeitsproblemen in Gruppen. Vortrag, gehalten am 16. Kongress der Internationalen Vereinigung für Individualpsychologie vom 7.–10. Juli 1985 in Montreal. Zürich: Verlag Menschenkenntnis 1985.

Kaiser, Annemarie (1977): Das Gemeinschaftsgefühl. Entstehung und Bedeutung für die menschliche Entwicklung. Eine Darstellung wichtiger Befunde aus der modernen Psychologie. Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde. Universität Zürich, 1977.

Autor

Moritz Nestor, Psychologe

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