Tötungsverbot muss bleiben

5. März 1994 Moritz Nestor

Es gibt keine «unerforschten Wege» in der Euthanasiefrage

Zu der gegenwärtigen neu aufflammenden Euthanasiedebatte wird von Befürwortern argumentiert als ob sich die Menschheit nicht immer schon um einen wirksamen Schutz des Lebens bemüht hätte. In Wirklichkeit gibt es einen internationalen Konsens über die Unantastbarkeit des menschlichen Lebens. (vgl. Zeit-Fragen Nr. 3)

Meist ist es ein einziges Argumentationsschema, mit dem heutige Euthanasiebefürworter die Tötung Kranker erneut zu rechtfertigen suchen: nach 1945 habe sich alles verändert, daher stünden wir heute in der Medizin vor völlig neuen Tatsachen, und die alte Ethik greife nicht mehr. Dies würde uns die Überlegung aufzwingen, ob es nicht «humaner» sei, in bestimmten Fällen unheilbare Patienten «zu ihrem Wohle» zu töten. So argumentierte zum Beispiel einer der radikalsten niederländischen Euthanasiebefürworter, der im deutschsprachigen Raum das «holländische Modell» salonfähig zu machen trachtet.

Dass die Medizin Fortschritte gemacht hat, steht ausser Zweifel. Der Mensch ist seit Hippokrates jedoch der gleiche geblieben. Das Grundrecht Nr. 1 besteht nach wie vor.

 

Recht auf Leben: unverzichtbares Menschenrecht

Artikel 1 der «Bill of Rights» von Virginia aus dem Jahre 1776 formulierte zum erstenmal in der Menschheitsgeschichte das Recht auf Leben als die Basis allen sozialen, rechtlichen und sittlichen Lebens: «Alle Menschen sind von Natur aus gleichermaßen frei und unabhängig und besitzen angeborene Rechte (. . .) das Recht auf Leben und Freiheit und dazu die Möglichkeit, Eigentum zu erwerben und zu behalten und Glück und Sicherheit zu erstreben und zu erlangen.»

Die amerikanische Unabhängigkeitserklärung von 1776 hält als Grundaufgabe des Staates erstmals fest, dass er die unveräusserlichen, qua natura gegebenen Grundrechte zu schützen habe. Seither ist das Lebensrecht zur Grundbedingung von Selbstbestimmung und Würde und zum Ausgangspunkt unserer freiheitlichen Gesellschaftssysteme geworden. Zusammen mit der spanischen Naturrechtslehre, der englischen Rechtslehre und der französischen Aufklärung entstand so die Tradition, auf der unser heutiges freies Zusammenleben fusst. Die DDR kannte zum Beispiel als totalitärer Staat, welcher sich aus ideologischen Gründen nicht auf die menschliche Natur beziehen wollte, kein Grund- oder Menschenrecht auf Leben, sondern leitete das Lebensrecht in Artikel 35 ihrer Verfassung von 1968 sekundär aus dem Recht auf Schutz der Gesundheit und der Arbeitskraft ab. Das Schweizer Bundesgericht hält explizit fest, dass das Recht auf Leben ein «ungeschriebenes Verfassungsrecht» ist und, eingeschlossen in die «Freiheiten, welche elementare Erscheinungen der Persönlichkeitsentfaltung des Menschen darstellen», durch die Verfassung geschützt ist. Die schweizerische Rechtssprechung bezieht sich ebenfalls auf die Europäische Menschenrechtskonvention. Durch deren Artikel 2 wird das «Recht jedes Menschen auf das Leben gesetzlich geschützt». Das österreichische Staatsgrundgesetz von 1867 nennt das Recht auf Leben nicht in einem eigenen Artikel, verfährt aber ähnlich wie die Schweiz.

 

Lehren aus dem Nationalsozialismus

Vor dem Hintergrund des nationalsozialistischen Genozids hat das bundesdeutsche Grundgesetz das Leben als ein Grundrecht und damit als unverletzlich für alle Zeiten festgeschrieben: «In keinem Fall darf ein Grundrecht in seinem Wesensgehalt angetastet werden.» Nach allgemeiner Rechtsauffassung nimmt das Leben in der Wertordnung des Grundgesetzes den Rang eines Höchstwertes ein und ist die «vitale Basis der Menschenwürde und die Voraussetzung aller anderen Grundrechte». Die Freiheitsgrundrechte sind im naturrechtlichen Sinne «objektivrechtliche Wertentscheidungen der Verfassungsordnung ». Damit ist das Lebensrecht nach Urteil des Bundesverfassungsgerichts ein objektiver Wert, nach dem sich alle Bereiche der Rechtsordnung auszurichten haben. Daher kann ärztliche Tätigkeit nur zum Ziele haben, dem Schutz des Lebens zu dienen, ansonsten würde sie der vernünftigen Rechtsordnung zuwiderlaufen. Die naturrechtliche Begründung der Freiheitsrechte in den modernen Verfassungsstaaten hat damit die kategorische Forderung des Hippokratischen Eides nach unbedingtem Schutz des Lebens erneuert und begründet.

Das Lebensrecht leitet sich anthropologisch aus der personenhaften Natur des Menschen ab und wird jedem allein deswegen garantiert, weil er der Gattung Mensch angehört, unabhängig von Alter, Rasse, Gesundheits- und Geisteszustand, Weltanschauung, sozialem Status oder Nationalität. Die Lebensschutzgarantie erfasst daher jeden Menschen ohne Diskriminierung und schliesst utilitaristische Erwägungen unterschiedlich wertvollen Lebens aus.

 

Lebensschutz als grundgesetzlicher Auftrag

Die «Einbecker Empfehlungen» der deutschen Akademie für Ethik in der Medizin, der Deutschen Gesellschaft für Kinderheilkunde und der Deutschen Gesellschaft für Medizinrecht halten daher fest: «Eine Abstufung des Schutzes des Lebens nach der sozialen Wertigkeit, der Nützlichkeit, dem körperlichen oder dem geistigen Zustand verstößt gegen Sittengesetz und Verfassung.» – «Eine menschenwürdige Behandlung dieser Gruppen, die auf die Hilfe anderer angewiesen sind, ist nicht nur ein sittliches Gebot der Humanität, sondern grundgesetzlicher Auftrag an jeden, in dessen Obhut und Verantwortung ein hilfsbedürftiger und zu betreuender Mensch gegeben ist.»

Der Ruf nach Euthanasie ist daher ein kultureller Rückschritt. Die historischen Erfahrungen, wohin die Aufhebung des Tötungsverbotes, schon nur das «Nachdenken» über lebenswertes und lebensun wertes Leben führt, liegen längst vor. Wir haben in Europa seit den Greueln der Conquistadores eine breite und heute abgeschlossene Diskussion darüber, dass das menschliche Leben – auch für den Arzt – unantastbar ist. Wir sollten uns also davor hüten, nochmals «erforschen» zu wollen, was wir längst in den Geschichtsbüchern nachlesen können. Der historische Konsens ist vielfach festgehalten.

 

Politische Institutionen

Die «Allgemeine Erklärung der Menschenrechte» der UNO von 1948: «Jedermann hat das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person.»

Die «Europäische Menschenrechtskonvention» von 1950:  «Das Recht jedes Menschen auf das Leben wird gesetzlich geschützt.»

Der «Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte» von 1966:  «Jeder Mensch hat ein angeborenes Recht auf Leben.»

Die «Amerikanische Konvention über Menschenrechte» von 1969:  «Jedermann hat das Recht auf Achtung seines Lebens.»

Die «Afrikanische Charta über die Rechte der Menschen und Völker» von 1981: «Alle Menschen sind unverletzlich. Jeder Mensch hat das Recht auf Achtung seines Lebens und die Integrität seiner Person.»

Die Empfehlung 779 des Europarates von 1976 über die Rechte der Kranken und Sterbenden hält fest, dass der Arzt «selbst in Fällen, die ihm hoffnungslos erscheinen, kein Recht hat, den natürlichen Verlauf des Sterbens absichtlich zu beschleunigen».

 

Internationale Institutionen der Ärzteschaft

Das «Genfer Ärztegelöbnis» des Weltärztebundes von 1948 erneuerte den Hippokratischen Eid: « . . . ich (werde) die höchste Achtung vor dem menschlichen Leben vom Zeitpunkt der Befruchtung an wahren.»

Der «Internationale Code der ärztlichen Ethik» des Weltärztebundes von 1949: «Der Arzt muss sich immer vor Augen führen, das Leben von der Konzeption an zu bewahren.»

Die Deklaration des Weltärztebundes von Lissabon über die Rechte des Patienten aus dem Jahre 1981 kennt keine Euthanasie.

Die Deklaration des Weltärztebundes von Venedig von 1983 erneuert wie 1948 das «Genfer Gelöbnis» den Hippokratischen Eid: «Es ist die Pflicht des Arztes, zu heilen und, wo es möglich ist, das Leiden zu lindern und die Interessen seines Patienten zu wahren. Von diesem Grundsatz darf es keine Ausnahme geben, auch nicht im Falle einer unheilbaren Krankheit oder Missbildung.»

Die Deklaration des Weltärztebundes von Madrid von 1987: «Euthanasie, das heisst die absichtliche Herbeiführung des Todes eines Patienten, selbst auf dessen Wunsch oder auf Wunsch naher Angehöriger, ist unethisch.»

Die «Grundsätze der ärztlichen Ethik» der Internationalen Konferenz der Ärztekammern und Organisationen mit entsprechenden Aufgaben von 1987 erneuerten ebenfalls den Eid des Hippokrates: «Der Arzt hat bei der Ausübung seines Berufes die Gesundheit des Patienten in den Vordergrund zu stellen. Der Arzt darf seine beruflichen Kenntnisse nur zur Verbesserung oder Erhaltung der Gesundheit der Menschen, die sich ihm anvertrauen, und nur auf deren Ersuchen einsetzen. Er darf in keinem Fall zu ihrem Schaden tätig werden.»

 

Kirchliche Stellungnahmen

Es ist für die christlichen Kirchen eine Selbstverständlichkeit, von der Heiligkeit des menschlichen Lebens auszugehen: «Du sollst nicht töten!» Stellvertretend hierfür seien zwei Stellungnahmen genannt:

Erklärung der Synode der Evangelischen Kirche im Rheinland (1985) und der Landessynode der Evangelischen Kirche von Westfalen (1986): «Wir erkennen, daß dem Menschen seine Würde von Gott beigelegt und darum unantastbar ist, daß sie also nicht in seinen Fähigkeiten und Leistungen begründet ist. Wer von Menschen geboren ist, ist Mensch, mögen seine Fähigkeiten und Möglichkeiten noch so eingeschränkt sein. Wir erkennen, daß Leiden den Menschen nicht erniedrigt und Leistung den Menschen nicht erhöht».

Erklärung zur Euthanasie 1980 der Kongregation für die Glaubenslehre: «Das menschliche Leben ist die Grundlage aller Güter und zugleich die notwendige Quelle und Vorbedingung für alle menschliche Tätigkeit sowie auch für jegliches gesellschaftliche Zusammensein.» Es ist «ein fundamentales unverlierbares und unveräusserliches Recht».

(Zeit-Fragen Nr. 5, März 1994)

Autor

Moritz Nestor, Psychologe

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